An Chancen und Wahlmöglichkeiten mangelt es uns wirklich nicht. Es gibt immer mehr Ideen als tatsächlich umgesetzt werden können. Dies gilt auf der Ebene des Individuums genauso wie für Teams und Organisationen. Dass unsere Welt sich technologisch getrieben immer schneller dreht und immer volatiler, unsicherer, komplexer und vieldeutiger wird, also immer mehr in Richtung VUCA tendiert, führt zu einer unerhörten Fülle an Chancen und Ideen. Umso wichtiger wird es in dieser Welt, sich zu fokussieren. Führung ist verantwortlich für Fokus. Und Fokus beginnt mit der vergessenen Kunst, Nein zu sagen.
In schwierigen Situationen fällt es leichter Nein zu sagen. Steve Jobs hat bei seiner Rückkehr zu Apple im Jahr 1996 eindrucksvoll die Macht der Fokussierung demonstriert. Apple hatte sich in einem unübersichtlichen Produktportfolio mit Dutzenden Modellen verlaufen und war damals 90 Tage von der Insolvenz entfernt. Steve Jobs reduzierte die 15 Desktop-Modelle auf genau zwei, den iMac für Privatkunden und den Power Macintosh G3 für Profis. Dasselbe machte er für die mobilen Geräte mit dem iBook und dem PowerBook G3. Übrig blieben also genau vier auf die jeweiligen Kundengruppen fokussierte Produkte und eine entsprechend verschlankte Organisation. Ein sehr schmerzhafter Prozess, der Apple aber das Überleben ermöglichte (schon 1998 schrieb Apple wieder schwarze Zahlen nach knapp über einer Milliarde Dollar Verlust in 1997) und letztlich die Geburtsstunde des Aufstieg zum wertvollsten Unternehmen der Welt war.
People think focus means saying yes to the thing you’ve got to focus on. But that’s not what it means at all. It means saying no to the hundred other good ideas that there are. You have to pick carefully. I’m actually as proud of the things we haven’t done as the things I have done.
Steve Jobs
Sich zwischen einer schlechten und einer guten Idee zu entscheiden ist keine Kunst. Viel schwieriger ist die Entscheidung zwischen vielen mehr oder weniger gleich guten oder unvergleichbaren Ideen. Fokussieren heißt deutlich öfter Nein als Ja zu sagen und die mit jedem Nein verbundenen Opportunitätskosten bewusst in Kauf zu nehmen. Auf der Ebene des Individuums nennt sich das dann FOMO (Fear of missing out) und wird durch soziale Medien massiv verstärkt.
Wie das Beispiel von Apple deutlich zeigt greift der FOMO-Mechanismus aber auch und gerade auf Organisationsebene. Da heißt es dann zwar vornehmer: „Das Eine machen ohne das Andere lassen.“ Das Ergebnis ist aber dasselbe wie auf Ebene des Individuums: Es wird auf zu vielen Hochzeiten getanzt, zu viel begonnen ohne vorher anderes abgeschlossen zu haben. Wozu das führt und warum man die work-in-progress auch und gerade auf höheren Ebenen in der Organisation limitieren muss, zeigt Klaus Leopold im folgenden sehenswerten Vortrag. Er zeigt, dass die Agilität auf Teamebene nur suboptimal ist, wenn die Teams trotzdem an zu vielen Vorhaben arbeiten. Trotz aller Agilität auf Teamebene bleibt eine solche Organisation immer noch schwerfällig, weil die Fokussierung auf höherer Ebene der Organisation auf die wesentlichen Vorhaben fehlt. Darum halte ich Fokussierung für eine der wichtigsten Führungsaufgaben heute: Stop starting, start finishing!
4 Kommentare
Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Die FOMO, also die Entscheidung zwischen 2 guten Optionen, will gelernt sein. Und in Scrum wird gerne mal eine Aufgabe mehr aufgenommen und am Ende werden die höher priorisierten, aufwändigen Aufgaben durch mangelnde Fokussierung nicht vollständig umgesetzt, stattdessen werden die kleinen Aufgaben erledigt.
… und im Kanban führt das dann zu überquellenden In Progress Spalten, mit Dingen die viel zu langsam fertig werden. Aber wenigstens sieht man den Misstand dann.
Hallo Marcus,
sehr guter Artikel und dem stimmt sicher auch jeder zu. Nur das Umsetzen ist in der Praxis sooo schwer. Das bedeutet nämlich auf höherer Ebene zu akzeptieren, dass „die niedrigere Ebene“ nicht alles machen kann und man selbst die Verantwortung dafür übernehmen muss. Andererseits bedeutet das oft sich gegen etwas zu entscheiden, von dem man selbst die Konsequenzen nicht im Detail kennt.
Viele Grüße
Heinz
In der Tat, lieber Heinz. Genau diese Entscheidung unter Unsicherheit könnte man als wichtige (und leider oft nicht wahrgenommene) Führungsaufgabe begreifen.