Alles hat seine Zeit, nur ich habe keine. So lautet der treffende Titel eines Buches von Karlheinz Geißler (Amazon Affiliate-Link). Er beschreibt damit das Phänomen der zunehmenden Zeitverdichtung: „Wir machen die Dinge nun nicht mehr schneller, sondern wir machen mehr in der gleichen Zeit.“ Kaum eine Besprechung in der die Teilnehmer nicht gleichzeitig am Laptop oder am Smartphone „arbeiten“ oder an beidem. Fast scheint es so, als wäre der Hauptzweck der Besprechung „ungestört“ E‑Mails beantworten zu können. Wir sind ständig erreichbar und doch immer irgendwie abwesend. Die Busyness hat uns fest im Griff. Der randvolle Kalender und der überquellende Eingangskorb sind gleichzeitig quälende Plage und stolze Insignien der eigenen Wichtigkeit und in dieser Ambivalenz ein Garant für Überlastung und Burnout. Ganz sicher sind sie aber kein Zeichen für Produktivität, denn „Multitasking heißt, viele Dinge auf einmal zu vermasseln.“ (Erwin Koch) Allerhöchste Zeit also, innezuhalten, sich zu besinnen auf das Wesentliche und mit sich und seiner Zeit achtsam umzugehen.
Ein Schüler fragte einmal seinen Meister, warum dieser immer so ruhig und gelassen sein könne.
Der Meister antwortete:
“Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich.”
Der Schüler fiel dem Meister in Wort und sagte:
“Aber das tue ich auch! Was machst Du darüber hinaus?”
Der Meister blieb ganz ruhig und wiederholte wie zuvor:
“Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich…”
Wieder sagte der Schüler: “Aber das tue ich doch auch!”
“Nein”, sagte da der Meister. “Wenn Du sitzt,
dann stehst Du schon.
Wenn Du stehst, dann gehst Du schon.
Wenn Du gehst, dann bist Du schon am Ziel.”
Aus dem Zen-Buddhismus
Wie jede Tendenz führt auch diese Zeitverdichtung (Zeitvernichtung?) zu Gegentendenzen. Die steigende Popularität jahrtausendealter Achtsamkeitspraktiken kann man auch als solche Gegentendenz verstehen. Chade-Meng Tan initiierte bei Google bereits 2007 das Achtsamkeits-Programm Search Inside Yourself (Amazon Affiliate-Link), das dort schnell zum beliebtesten Trainingsprogramm avancierte. Auch viele deutsche Firmen haben die Kraft der Achtsamkeit erkannt, beispielsweise SAP. Die obige Geschichte aus dem Zen-Buddhismus zeigt jedenfalls, dass achtsame Präsenz wohl schon immer eine Herausforderung für Menschen war. Durch vielfältige technische Hilfsmittel haben wir in den letzten Jahrzehnten die in jedem einzelnen Moment zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen drastisch erhöht. Und anstatt uns bewusst für eine Option zu entscheiden und achtsam beispielsweise eine E‑Mail zu beantworten, finden wir uns in einer hastig anberaumten und daher unspezifischen Besprechung ohne Agenda mit viel zu vielen nur peripher tangierten Teilnehmern, hören mit einem Ohr zu, während wir (endlich) hastig unsere E‑Mails abarbeiten, selbstverständlich unterbrochen von WhatsApp, Twitter, Facebook und Co. oder einem wichtigen Anruf.
Alles über 85 Prozent Auslastung führt zu Chaos bis hin zu Katastrophen. Denn eine solch hohe Auslastung erzeugt durch Ärger und Prioritätenänderungen wegen wartender Notfälle neue Arbeit, sodass die Auslastung über 100 Prozent steigt und das System zusammenbrechen lässt.Gunter Dueck
In seinem sehens- und hörenswerten Vortrag auf der AgileByExample Konferenz 2016 (s.u. bzw. in dem Blog-Post dazu) erzählt Henrik Kniberg aus seiner sehr persönlichen Erfahrung, warum Multitasking das Problem und nicht die Lösung ist, wie er den Wert von Fokussierung schmerzhaft wieder lernen musste und was er seither tut, um im optimalen Fluss zu arbeiten. Was Gunter Dueck in seinem Buch Schwarmdumm (Amazon Affiliate-Link) mathematisch aus der Warteschlangentheorie herleitet, zeigt Henrik plastisch mit Hilfe zweier seiner Kinder und einigen Zuschauern: Die optimale Auslastung im Sinne des optimalen Durchsatzes liegt deutlich unter 100%. Lastet man Systeme über diese Schwelle hinaus aus, passiert das, was Gunter Dueck oben beschreibt und was wir beinahe täglich im Straßenverkehr erleben: Verkehrschaos und Staus, also suboptimaler Durchsatz aufgrund zu hoher Auslastung (muri heißt das dann im Toyota Production System). Henrik bringt diese Erkenntnis auf die einfache Formel: Fokus braucht Freiraum. Für sich selbst setzt er das um, indem er sich seit Jahren pro Woche zwei Tage frei hält von Kundenterminen. Obwohl er damit als Selbständiger theoretisch 40% Einkommenseinbußen riskiert, wurde er tatsächlich produktiver und erfolgreicher, weil er durch diese Restriktion viel stärker priorisieren und sich für die ihm wichtigen und richtigen Optionen entscheiden musste.
Weniger ist mehr. Stop starting, start finishing. Wir müssen aufhören, Beschäftigtsein mit Produktivität zu verwechseln. Und wieder lernen, Nein zu sagen. Verknappung der eigenen Zeit wie Henrik Kniberg das macht ist dafür ein probates Mittel. Genauso wie Achtsamkeit, um die relevanten Optionen dann auch voll auszuschöpfen – oder einfach nur Mensch zu sein …
Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.
Astrid Lindgren