Ihr müsst jetzt ganz stark sein: Ein paar User-Stories und Daily Standup machen noch nicht agil. So, jetzt ist es raus. Es ist sinnlos, Spotify zu kopieren. Die Form, die Rituale und die Praktiken zu imitieren ohne die Essenz darin und die Logik dahinter zu begreifen ist wirkungsloser Cargo-Kult.
In the South Seas there is a cargo cult of people. During the war they saw airplanes land with lots of good materials, and they want the same thing to happen now. So they’ve arranged to imitate things like runways, to put fires along the sides of the runways, to make a wooden hut for a man to sit in, with two wooden pieces on his head like headphones and bars of bamboo sticking out like antennas — he’s the controller — and they wait for the airplanes to land. They’re doing everything right. The form is perfect. It looks exactly the way it looked before. But it doesn’t work. No airplanes land. So I call these things cargo cult science, because they follow all the apparent precepts and forms of scientific investigation, but they’re missing something essential, because the planes don’t land.
Richard Feynman, 1974
Agile Methoden und insbesondere Scrum haben ein ungeheures Cargo-Kult-Potential. Einerseits wegen der Einfachheit der agilen Praktiken, immerhin war das Agile Manifest als Gegenbewegung zu schwergewichtigen Software-Entwicklungsmodellen gedacht, und andererseits wegen der für klassisch-tayloristische Organisationen nicht praktikablen und teilweise nicht vorstellbaren dahinterliegenden Prinzipien. Selbstorganisierte Teams, die autonom volle Verantwortung für ihr Produkt übernehmen und entsprechend auch weitgehende Entscheidungsmacht erhalten? So agil dann doch lieber nicht. Teams, die alle unterschiedlich arbeiten und niemand zentral eine einheitliche Arbeitsweise vorgibt? Wo kämen wir da hin! Der Unsicherheit ins Auge sehen und entsprechend lieber auf Sicht segeln anstatt Großprogramme im Detail für drei Jahre ausplanen – wohlgemerkt: zur Genehmigung? Schwierig, wenn der einzige Karrierepfad über Projekte und Programme ins Linienmanagment führt.
Dennoch oder gerade deswegen wirken die Ergebnisse agiler Unternehmen verführerisch auf klassische Industrieunternehmen, insbesondere wenn sie sich aufgrund neuer Technologien mit enormen disruptivem Potential mit neuen und meist agileren Konkurrenten messen müssen. So anpassungsfähig und innovativ will man freilich auch werden. Also keine dicken Konzepte mehr, sondern nur noch User-Stories. Und flugs die Arbeitspakete im Großprogramm umbenannt in Epics. Ein bisschen Planning Poker zum Schätzen und jeden Tag ein Daily Standup. Ein paar Kicker noch und fertig ist der Cargo-Kult: Form ohne Funktion – Theater ohne Wirkung.
Agilität bedeutet im Kern Anpassungsfähigkeit. Es geht darum, in kurzen Abständen etwas Benutzbares zu liefern, Feedback dazu einzuholen und aufgrund dieser Erkenntnis die Strategie anzupassen und den nächsten Schritt zu planen. Agilität bedeutet in unbekanntem Gewässer als Team auf Sicht zu segeln, statt der Unsicherheit mit detaillierten Plänen zu begegnen und diese dann in tayloristischer Arbeitsteiligkeit mit vielen Übergaben schwerfällig umzusetzen. Voruntersuchungen in epischer Breite, um den Scope bis in den letzten Winkel zu klären, sind wenig agil, sondern zeugen von altem Denken. Natürlich kann man die vollständigen Anforderungen für die nächsten drei Jahre User-Stories und die Arbeitspakete des zugehörigen Großprogramms Epics nennen und im Detail ausplanen, aber agil wird das trotz Kicker dann nicht.
Es ist das Gesetz aller organischen und anorganischen, aller physischen und metaphysischen, aller menschlichen und übermenschlichen Dinge, aller echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele, dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, dass die Form immer der Funktion folgt.
Louis Sullivan, Architekt
Form folgt Funktion. Nicht umgekehrt. Agilität beruht auf Prinzipien. Die bekannten Praktiken und Methoden sind nur Phänomene der Prinzipien und nicht die Essenz von Agilität. Dass Spotify und andere agile Organisationen ähnliche Praktiken aufweisen, liegt an den gemeinsamen agilen Prinzipien. Die Praktiken allein machen aber nicht agil. Auch hier gilt es, wie so oft, Korrelation nicht mit Kausalität zu verwechseln.
6 Kommentare
Und unbedingt noch ganz präzise „Best Practises“ als Schritt für Schritt Anleitung zur Verfügung stellen. Wozu eigene Erfahrungen sammeln ?
Eigene Erfahrung heißt eigene Fehler und dieser Mut wird nicht überall belohnt. Dann lieber Kochrezepte auf Tütensuppenniveau …
Danke für diesen treffenden Text! Den Begriff Cargo-Kult kannte ich in diesem Zusammenhang noch gar nicht – das trifft es genau!
Schöne Grüße
Dagmar
Vielen Dank, das freut mich sehr!
Was ist mit „Kicker“ gemeint?
Na sowas: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Tischfußball