Kontinuierliches Ausliefern: Mittel oder Zweck?

Müss­te man agi­les Vor­ge­hen auf ein Merk­mal redu­zie­ren, wäre das für meis­ten Men­schen wohl das kon­ti­nu­ier­li­che Aus­lie­fern von wert­vol­len Zwi­schen­er­geb­nis­sen. Frei­lich um dann im nächs­ten Atem­zug zu erklä­ren, war­um das in ihrem jewei­li­gen Umfeld unmög­lich oder jeden­falls sehr schwie­rig wäre und sie dar­um doch lei­der beim Was­ser­fall­mo­dell blei­ben müs­sen. Die­se Aus­re­de Begrün­dung klingt schlüs­sig solan­ge man das kon­ti­nu­ier­li­che Aus­lie­fern als con­di­cio sine qua non betrach­tet, was es aber nicht sein sollte.

Our hig­hest prio­ri­ty is to satis­fy the cus­to­mer through ear­ly and con­ti­nuous deli­very of valuable software.
Prin­ci­ples behind the Agi­le Manifesto

Früh­zei­tig und kon­ti­nu­ier­lich dem Kun­den einen Mehr­wert zu lie­fern ist ganz ohne Fra­ge die Kür. Am Ende ist der Wert beim Kun­den der ein­zi­ge Maß­stab der wirk­lich zählt. Das hat zunächst aber nichts mit agil zu tun, weil allein das kon­ti­nu­ier­li­che Lie­fern von (ange­nom­me­nen) Wert nicht ver­hin­dert in eine fal­sche Rich­tung zu lau­fen. Viel ent­schei­den­der ist der regel­mä­ßi­ge Abgleich des erwar­te­ten mit dem tat­säch­li­chen Kun­den­nut­zen und anschlie­ßen­der Kurs­kor­rek­tur. Die kon­ti­nu­ier­li­che Aus­lie­fe­rung ist also nicht Selbst­zweck, son­dern in ers­ter Linie Mit­tel um über­haupt die Posi­ti­on bestim­men zu kön­nen und damit wen­dig zu bleiben.

Deli­ver working soft­ware fre­quent­ly, from a cou­ple of weeks to a cou­ple of months, with a pre­fe­rence to the shorter timescale.
Prin­ci­ples behind the Agi­le Manifesto

Gewach­se­ne IT-Land­schaf­ten, Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren und Soft­ware-Archi­tek­tu­ren erlau­ben es tat­säch­lich oft nicht, alle drei Wochen wert­vol­le Soft­ware an den End­kun­den zu lie­fern. Zu stark sind die Abhän­gig­kei­ten und die damit ver­bun­de­nen Auf­wän­de zum Test. Trotz­dem ist es fast immer mög­lich, in so kur­zen Abstän­den Rück­mel­dun­gen von End­kun­den zu Zwi­schen­ver­sio­nen ein­zu­ho­len. Die­se sind in der Regel sogar begeis­tert davon, dass sie am leben­den Pro­dukt aktiv Ein­fluss neh­men kön­nen und nicht nur see­len­lo­se Kon­zept­pa­pie­re wäl­zen müssen.

Man kann sehr wohl agil vor­ge­hen ohne alle drei Wochen an den End­kun­den aus­zu­lie­fern, solan­ge man dafür sorgt, dass man alle drei Wochen Rück­mel­dung zu sei­nem „poten­ti­al­ly shippable pro­duct“ erhält. Die ech­te Aus­lie­fe­rung kann dann zunächst wie gewohnt mehr­fach im Jahr nach einem gemein­sa­men Inte­gra­ti­ons­test zur Absi­che­rung statt­fin­den. Zwar ent­steht der Wert beim Kun­den dann natür­lich spä­ter im Zusam­men­spiel aber hof­fent­lich bes­ser getestet.

For a new soft­ware sys­tem, the requi­re­ments will not be com­ple­te­ly known until after the users have used it.
Watts S. Humphrey

Die ein­ge­schränk­ten Mög­lich­kei­ten einer ech­ten Aus­lie­fe­rung in kur­zen Abstän­den darf nicht als Aus­re­de die­nen, um nicht agil vor­zu­ge­hen. Und wenn man sich ent­schei­det, agil vor­zu­ge­hen, soll­te man sich um die Fähig­keit in kur­zen Abstän­den aus­zu­lie­fern erst in zwei­ter Linie küm­mern. Viel wich­ti­ger wäre das Ein­ge­ständ­nis, dass es für kom­ple­xe Sys­te­me den gerad­li­ni­gen Weg wie ihn das Was­ser­fall­mo­dell sug­ge­riert nicht geben kann, son­dern die­se emer­gent ent­ste­hen und man daher in kur­zen Abstän­den die ein­ge­schla­ge­ne Rich­tung mit dem End­kun­den zusam­men über­prü­fen muss.



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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

6 Kommentare

Hal­lo Marcus,
ich sehe das „kon­ti­nu­ier­li­ches Aus­lie­fern“ nicht als Merk­mal agi­len Vor­ge­hens, son­dern viel­mehr einen inter­es­san­ten Aspekt agi­len Denkens.
Aller­dings hat man­che dies­be­züg­li­che For­mu­lie­rung schon etwas sehr Undif­fe­ren­zier­tes an sich.

Kon­ti­nu­ier­li­ches Aus­lie­fern von nutz­ba­ren Pro­duk­ten ist nur eine mög­li­che Interpretation.
Ich wür­de es wei­ter fas­sen und vom Kon­ti­nu­ier­li­chen Aus­lie­fern sinn­träch­ti­ger Ergeb­nis­se sprechen.

Und das funk­tio­niert auch im klas­sisch gepräg­ten Umfeld her­vor­ra­gend, aber genau­so­gut im Tages­ge­schäft oder ganz ande­ren Umfeldern:

Sei es ein lau­fen­der, sinn­vol­ler Infor­ma­ti­ons­fluß zum Kun­den, wel­che Schrit­te abge­schlos­sen oder in Arbeit sind, oder was aus wel­chen Grün­den län­ger dau­ert und wie der Kun­de sich da mit ein­brin­gen kann;

Sei es ein kur­zes Sta­tus­up­date in der Raucherecke;

Sei es ein Vor­ab­zug einer Zeich­nung, die der Kun­de braucht, um einen ande­ren Lie­fe­ran­ten wie­der in Schwung zu bringen.

Oder auch eine kur­ze tech­ni­sche oder ver­trag­li­che Infor­ma­ti­on, die ande­ren Betei­lig­ten hilft, ein Pro­blem zu lösen.

Sobald man sich von dem sehr kon­kre­ten Begriff der „Pro­dukt­lie­fe­rung“ löst und die „Aus­lie­fe­rung“ krea­ti­ver betrach­tet, tun sich unglaub­li­che Mög­lich­kei­ten auf, den Kun­den und ande­re Stake­hol­der im Loop zu hal­ten und kon­struk­tiv mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Nach wie vor: Agi­le Metho­den sind nicht immer geeignet;
Agi­le Den­ke hin­ge­gen, in Maßen ein­ge­setzt, befreit den Geist und eröff­net Möglichkeiten.

Den klas­si­schen Pro­jek­ten wird immer vor­ge­wor­fen, nur an das voll­stän­di­ge End­pro­dukt zu den­ken; tat­säch­lich ist es aber so, daß jedes End­pro­dukt oder Pro­jekt­er­geb­nis auf dem Weg über tau­sen­de Zwi­schen­pro­duk­te ent­steht, die um so wert­hal­ti­ger sind, je bewuß­ter man sie ausliefert.

Dan­ke für Dei­nen Kom­men­tar, Thi­lo! Das was Du als agi­les Den­ken beschreibst, erin­nert mich stark an die Bewe­gung working out loud. Trans­pa­renz und Kom­mu­ni­ka­ti­on sind für mich Schlüs­sel­fak­to­ren in jedem Pro­jekt, egal in wel­cher Vor­ge­hens­wei­se. Agil heißt für mich aber schon kon­ti­nu­ier­lich ange­nom­me­nen Wert zu lie­fern und zu prü­fen ob die Erwar­tung bestä­tigt wird. Es geht um nutz­ba­re Zwi­schen­pro­duk­te und weni­ger um Tei­le des gan­zen Pro­dukts oder Planungsdokumente.

Ich wür­de Agi­li­tät mit „Ver­schwen­dung ver­mei­den“ gleich­set­zen. Damit sind dann auch die The­men, die sich durch nicht vor­han­de­ne kon­ti­nu­ier­li­che Aus­lie­fe­rung erge­ben abgedeckt.

Ver­schwen­dung ver­mei­den trifft tat­säch­lich den Kern der Din­ge. Wenn man aber mit Agi­li­tät anfan­gen will, wäre mir anfangs die Fähig­keit, nütz­li­che Zwi­schen­schrit­te erar­bei­ten und irgend­wie ver­pro­ben zu kön­nen (mit allem was an Kul­tur, Archi­tek­tur, Werk­zeu­gen, etc. dazu­ge­hört) viel wich­ti­ger als die­se Zwi­schen­schrit­te auch wirk­lich aus­lie­fern zu kön­nen. Auch wenn das natür­lich auch Ver­schwen­dung bedeu­tet, weil der ech­te Nut­zen sich dann spä­ter einstellt.

Ist das eine Risi­ko­be­trach­tung? War­um nicht schnellst­mög­li­che Aus­lie­fer­fä­hig­keit als Ziel, selbst wenn es am Anfang erst mal mäch­tig hol­pert oder sogar schei­tert? Wenn man es als Expe­ri­ment (ohne Kon­se­quen­zen!) betrach­tet, ist das doch eine pri­ma Vor­ge­hens­wei­se. Expe­ri­men­tie­ren, dar­aus ler­nen, neu aus­rich­ten, nächs­tes Experiment.

War­um nicht. Die­se Expe­ri­men­te und das ler­nen dar­aus set­zen aller­dings schon eine gewis­se agi­le Grund­hal­tung vor­aus, die es noch nicht über­all gibt. Viel­mehr denkt man zu oft in end­gül­ti­gen Lösun­gen und meint dann erst rich­tig agil sein zu kön­nen, wenn das kon­ti­nu­ier­li­che Aus­lie­fern funk­tio­niert, was ein bes­ten­falls ein Trug­schluss und schlimms­ten­falls eine Aus­re­de ist.

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