Es gibt viele gute Gründe, sich mit Agilität zu beschäftigen. Man könnte an die weitgehend ungenutzte Kreativität, Motivation und Eigenverantwortung der Mitarbeiter glauben. Oder man könnte erkennen, dass bei komplexen Problemstellungen ein plangetriebenes Vorgehen weniger geeignet ist als ein empirisches. Und natürlich könnte man den Wunsch haben, sich radikal auf den Kundennutzen auszurichten und den Wertstrom dafür optimieren. Wenn man aber lieber in den alten Mustern denkt, kommt man an diesen Überlegungen freilich gar nicht vorbei. Buchtitel wie „Scrum: The Art of Doing Twice the Work in Half the Time“ von Jeff Sutherland (ein im Übrigen lesenswertes und hilfreiches Buch) verleiten den geneigten Manager dann zu einem fatalen Trugschluss: Agile Methoden steigern die Leistung seiner Mitarbeiter. Also her mit dem agilen Kraftfutter!
Effektivität vor Effizienz
Agilität hat zunächst viel mehr mit Effektivität zu tun und nicht mit Effizienz. Es geht darum, in unsicherem und komplexem Umfeld das Richtige zu tun und nicht so sehr darum, bekannte und geplante Umfänge effizienter abzuarbeiten. Der Fokus von Agilität liegt auf der schnellen Lieferung von Kundenwert. Einerseits natürlich, um schnell Wert zu generieren. Andererseits aber auch, um aus der Benutzung durch den Kunden empirisch gestützte Erkenntnisse für die weitere Entwicklung zu gewinnen.
Dieses Bild vom Henrik Kniberg zeigt dieses empirische Vorgehen in der unteren Sequenz sehr schön. Mit jeder Lieferung kann der Kunde sich ein bisschen schneller, komfortabler und sicherer fortbewegen. Und die Erkenntnisse aus der Benutzung durch den Kunden fließen zurück in die Entwicklung. Darum entsteht in der unteren Sequenz ein Cabrio, weil man gemeinsam erkannt hat, dass der Kunde frische Luft sehr schätzt. Natürlich ist das nicht der effizienteste Weg ein Cabrio zu bauen, aber der einzig richtige, wenn nicht klar ist, welches Fortbewegungsmittel gebraucht wird.
If the ladder is not leaning against the right wall, every step we take just gets us to the wrong place faster.
Steven R. Covey
Optimierung des Systems statt agiles Kraftfutter
Mitarbeiter sind keine Milchkühe und agile Methoden sind kein Kraftfutter. Agilität optimiert nicht die Leistung der einzelnen Menschen, sondern die Leistung, den Wertstrom und die Wertschöpfung des gesamten Systems, in dem diese Menschen ihre Leistung erbringen.
A system is more than the sum of its parts; it is an indivisible whole. It loses its essential properties when it is taken apart.
Russel Ackoff
Die Wurzeln von Agilität liegen in den fünf Prinzipien des Lean Management. So kann das Manifest für agile Softwareentwicklung verstanden werden als die Anwendung dieser Prinzipien auf die Softwareentwicklung. Ausgehend vom Kundenwert entsteht der optimale Fluss im interdisziplinären und selbstorganisierten Team, das den kompletten Wertstrom von der Idee bis zum Betrieb der Software abdeckt. Ziel ist es dabei, sich auf die wertschöpfenden Prozesse und Arbeitsschritte zu konzentrieren und unnötigen Aufwand zu vermeiden.
Im Lean Management geht es um die Optimierung des Systems und dem Fluss der Arbeit im Wertstrom. Es geht explizit nicht darum, die Leistung der einzelnen Komponenten und Mitarbeiter auszureizen. Neben dieser Verschwendung durch unnötigen Aufwand (Muda im Japanischen) nennt das Toyota Production System deshalb auch noch Überlastung (Muri im Japanischen) als weitere Art der Verschwendung. Und auch dieses Prinzip des nachhaltigen Arbeitens war den Autoren des Manifests für agile Softwareentwicklung wichtig:
Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können.
Prinzipien hinter dem Agilen Manifest
10 Kommentare
Hallo Marcus,
es liegt mir fern, den befreienden und kreativitätsfördenden Impuls agiler Arbeitsweisen schmälern zu wollen. Dennoch bewegen wir uns einem leistungsorientierten System zur Erhöhung des Kapitalertrags durch Wettbewerbsvorteile.
Und erstaunlicherweise schaffen es agile Produktionsmethoden mit weniger Ressourceneinsatz bessere Resultate zu erzielen, gerade weil die Kreativität der Arbeitenden gefördet wird und der Spaßfaktor am Arbeiten die Menschen zu erhöhten Leistungen anspornt. Darum ist das Modell auch massiv burnout-gefährdend, wenn man nicht aktiv gegensteuert.
Ich denke aber, wenn Zwangs- und Angstmechanismen besser geeignet wären (oder einst wieder sind) werden genau diese eingesetzt, um eine höhere Rendite zu erzielen.
Gruß – Lars
Lieber Lars, widersprechen möchte ich dir bei deiner Prämisse, dass wir uns in einem „leistungsorientierten System zur Erhöhung des Kapitalertrags durch Wettbewerbsvorteile“ bewegen. Auch wenn sich das manchmal so anfühlt, so bin ich der festen Meinung, dass Profit kein Selbstzweck sein darf. Einig sind wir uns ja, dass Agilität in unsicherem Umfeld mit den vorhandenen Ressourcen besser, weil zielgerichteter umgeht und natürlich auch, wie du schreibst, weil die Bedingungen der Selbstorganisation zu besseren und mehr Leistungen anspornen. Und ich gebe dir auch recht, dass Agilität dadurch auch den Keim der Selbstausbeutung in sich trägt, weshalb die Autoren des agilen Manifests ja genau darauf wert gelegt haben.
Lieber Marcus, deinem Artikel stimme ich völlig zu, deiner Antwort auf Lars‘
Einwand aber nicht. Lars sagt, dass viele Unternehmen nur ihren Shareholder Value im Sinn haben. Und du antwortest darauf, dass Profit kein Sebstzweck sein darf.
Das eine ist ein Statement über die wirkliche Welt, deine Antwort ein moralisches Urteil. Zwei verschiedene Welten. Was die wirkliche Welt angeht, muss man sich nur Jeff Bezos anschauen und welche Sklavenhaltermethoden in Amazon‘s Logistikzentren herrschen.
Lieber Wolf, meine Bemerkung war nicht als moralisches Urteil gedacht, sondern eine Feststellung über wirtschaftliche Zusammenhänge. Viel besser und ein wenig ausführlicher fasst das Peter F. Drucker zusammen:
Amazon ist ein ganz gutes Beispiel für diesen Zusammenhang (trotz der von dir zu Recht angeprangerten Zustände): Amazon hat einen ganz klaren Purpose / eine ganz klare Mission („The most customer-centric company in the world“) und andererseits ist Amazon gerade nicht auf Gewinnmaximierung und Shareholder-Value fixiert. Im Gegenteil wurden sie immer wieder dafür kritisiert zu wenig Gewinn auszuweisen und zu viel wieder zu reinvestieren.
Hallo Marcus, vielen Dank für Deinen Kommentar und Deine Zustimmung zur (Neben-)Wirkung der modernen Arbeitsweisen.
Formal stimme ich auch Deiner These zu, dass Profit kein Selbstzweck ist.
Aber da habe ich wohl in meiner Jugend eine Prise zuviel Marxismus inhaliert, um nicht zu ahnen, dass der Zweck des Profits die Akkumulation des Kapitals ist (aufgrund des Konkurrenzkampfes – denn nur wer permanent akkumuliert, wird bestehen bleiben).
Im Unterschied zu Marx‘ Zeiten vollzieht sich diese Akkumulation weniger in Produktionsmittel, die man weiterentwickelt oder als Invest einkauft. Das Ziel der Akkumulation sind immer mehr die Mitarbeiter selbst, die sich und ihre Arbeitsumgebung permanent optimieren sollen und dafür von ihren Arbeitgebern die bestmögliche Unterstützung erfahren.
Der ganze Zauber von Selbstverwirklichung, Kultur und höheren Werten ist dem sekundär.
Das sieht man auch schön daran, wenn „Kulturverbesserer“ mit agilen Werten versuchen, auf missionarischem Wege die Produktionsmethoden zu ändern … .
Erst wenn klare Scrum-Taktung, automatisiertes Testen und Deployment, schnelles Entscheiden sowie (Kunden-)Feedback funktionieren, ist man (wieder) konkurrenzfähig.
Bitte verstehe mich nicht mis – ich bin kein Gegner moderner Arbeitsweisen und freue mich über jeden Gewinn an perönlicher Freiheit – auch im Arbeitsprozess. Ich möchte mir nur den klaren Blick nicht zukleistern (lassen).
Schönen Gruß – Lars
Lieber Lars, mag sein, dass der Zweck des Profits die Akkumulation des Kapitals ist, aber der Zweck der Organisation ist nicht der Profit oder jedenfalls sollte er es in einer gesunden Organisation nicht sein. Mit einem klaren Purpose zieht man auch die richtigen Menschen an (im Sinne deine Akkumulation der Mitarbeiter als wesentlichen Faktor). Und mit dem richtigen Purpose (und einer passenden Arbeitsweise und Umgebung) bietet man den Menschen auch ein Stück Selbstverwirklichung.
Hallo Marcus, hinter Deinem Wunsch nach einer „gesunden Organisation“ mit einem klaren, die Menschen anziehenden Purpose steckt wahrscheinlich ein Glaube an das Gute im Menschen. Diesen teile ich, was die kapitalistische Produktionsweise anbelangt, nicht. Wenn der „Purpose“ der Organisation die Entwicklung der weltbesten Killerroboter wäre, würden agile Methoden genauso erfolgreich angewendet und die entsprechenden Menschen davon begeistert.
Ich meine auch, dass, falls künstliche Intelligenzen eines Tages kreativer, fehlerfreier und schneller Kundennutzen generieren würden, als der mühsam zu motivierende Mensch, die „gesunde Organisation“ ganz anders aussehen würde – ganz ohne Selbstverwirklichung, weil ohne Menschen.
Hallo Lars, das hat gar nicht so viel mit gut oder böse zu tun. Mir ging es nur darum, den Zweck der Organisation klar zu benennen und der ist das wofür Kunden bereit sind zu bezahlen. Das können auch Killerroboter sein und das wird manchen Mitarbeiter ansprechen und andere nicht. Auch dieser Zweck (so sehr ich ihn ablehne) wäre besser als einfach den Profit zum Selbstzweck zu machen.
Der selbst auferlegte Druck in Scrum ist in meinen Augen nicht von der Hand zu weisen. Darum bin ich auch dafür, solche Entwicklungsphasen bewusst abzuschließen und auch mal wieder etwas anderes zu tun.
Agile Vorgehensweisen sehe ich allerdings, im Gegensatz zu Scrum, anders. Hier geht es darum, über den eigenen Horizont zu gucken. Um es mit Lars Worten zu sagen: Kopf anschalten. Dabei hat teilweise der Mitarbeiter mehr den Erfolg der Firma im Blick als die Führungskraft. Er möchte ja auch länger in einem ansprechenden Umfeld (Kultur) arbeiten.
Mich irritiert immer wieder, wie ungenügend (aus meiner Sicht) der Kunde die Wertschöpfung seiner Anforderungen beurteilt. Es ist häufig wichtiger, alle Funktionen eines Gebietes umzusetzen, als die am meisten wertschöpfenden Funktionen aller Gebiete. Die Angst davor, dass nicht alles umgesetzt wird oder etwas nicht abgeschlossen werden kann, erzeugt Angst. Und die Umsetzung der goldenen Wasserhähne kostet Zeit.
„Der selbst auferlegte Druck in Scrum“ ist aber ein Widerspruch bzw. ein Verstoß zu den Prinzipien des agilen Manifests. Dort ist ja explizit von der Nachhaltigkeit die Rede indem es heißt:
Natürlich fühlt sich das in der Praxis oft anders an und daran sind eben auch das in diesem Artikel angesprochene Missverständnis schuld. Dabei geht es – und da bin ich komplett bei deinem letzten Absatz – darum, das richtige zu tun und sich auf das Wesentliche zu beschränken und so Verschwendung in Form von Überproduktion (aka „goldene Wasserhähne“) zu vermeiden.