Die drei Säulen der Agilität: Empirie, Empowerment und Ownership

Agi­le Metho­den und Frame­works gibt es vie­le, aber was ist die Essenz von Agi­li­tät? Und wie lässt sie sich beschrei­ben ohne auf die Ter­mi­no­lo­gie von Scrum & Co. zurück­zu­grei­fen? Das Mani­fest für agi­le Soft­ware­ent­wick­lung wirkt auf den ers­ten Blick wie ein guter Start­punkt zur Beant­wor­tung die­ser Fra­gen. Jedoch sind The­sen wie „Reagie­ren auf Ver­än­de­rung mehr als das Befol­gen eines Plans“ eher Absichts­er­klä­run­gen und nicht wirk­lich hand­lungs­lei­tend. Die Prin­zi­pi­en hin­ter dem Mani­fest sind da schon deut­lich kon­kre­ter. Dort heißt es bei­spiels­wei­se: „Lie­fe­re funk­tio­nie­ren­de Soft­ware regel­mä­ßig inner­halb weni­ger Wochen oder Mona­te und bevor­zu­ge dabei die kür­ze­re Zeit­span­ne.“ Ein zusam­men­hän­gen­des Bild, wor­um es der Agi­li­tät im Kern geht, lie­fern die­se Prin­zi­pi­en aber in ihrer Viel­falt der über­deck­ten Aspek­te lei­der auch nicht. 

Was ist also nun als wesent­lich anzu­se­hen für die Agi­li­tät? Ers­tens und am auf­fäl­ligs­ten, weil als Gegen­po­si­ti­on zu dem ver­brei­te­ten plan­ge­trie­be­nen ana­ly­ti­schen Vor­ge­hen ist das sicher­lich die Empi­rie: Agi­les Vor­ge­hen bedeu­tet empi­ri­sches Erkun­den von Lösun­gen und Märk­ten in einem kom­ple­xen Umfeld. Zwei­tens setzt Agi­li­tät kon­se­quent auf Empower­ment der Teams und damit ins­be­son­de­re in bes­ter Tra­di­ti­on des Lean-Manage­ments dar­auf, die eige­ne Arbeits­wei­se und die Arbeits­pro­zes­se zu hin­ter­fra­gen und zu ver­bes­sern. Und drit­tens bedeu­tet Agi­li­tät Owner­ship und Team­work. Agi­li­tät ist die Abkehr von klein­tei­li­gem Exper­ten­tum, das zur Bear­bei­tung eines jeg­li­chen nicht-tri­via­len Pro­dukts vie­le Über­ga­ben nach sich zieht, hin zu klei­nen, schlag­kräf­ti­gen, cross-funk­tio­na­len Teams, die gemein­sam Ver­ant­wor­tung für ihr Pro­dukt über­neh­men und es mit Lie­fe­run­gen in kur­zen Abstän­den weiterentwickeln.

Empirie

Empi­rie stammt vom grie­chi­schen εμπειρία (empei­ría), das in etwa mit Erfah­rung oder Erfah­rungs­wis­sen über­setzt wer­den kann. Empi­rie ist der Ver­such, Zusam­men­hän­ge durch das sys­te­ma­ti­sche Sam­meln von Erfah­run­gen zu ver­ste­hen. Dazu wer­den theo­re­ti­sche Annah­men über die Welt als Hypo­the­sen for­mu­liert und durch geeig­ne­te Expe­ri­men­te über­prüft oder wider­legt. Im Gegen­satz zur Ana­ly­tik (vom griech. ἀναλύειν ana­ly­ein ‚auf­lö­sen‘) wird das unter­such­te Sys­tem nicht in Bestand­tei­le zer­legt, son­dern die Wirk­zu­sam­men­hän­ge im Gro­ßen betrach­tet. Das mensch­li­che Gehirn etwa lässt sich ana­ly­tisch unter­su­chen und dadurch als kom­pli­zier­tes und dyna­mi­sches Geflecht von Neu­ro­nen begrei­fen, Denk­mus­ter las­sen sich aber nur empi­risch durch geeig­ne­te psy­cho­lo­gi­sche Expe­ri­men­te nachweisen.

Agi­li­tät beginnt damit, sich die Unsi­cher­heit und Kom­ple­xi­tät des Vor­ha­bens und sei­ner Umwelt ehr­lich ein­zu­ge­ste­hen. Die logi­sche Ant­wort auf die­se Kom­ple­xi­tät ist es dann, eher empi­risch und weni­ger ana­ly­tisch und plan­ge­trie­ben zu arbei­ten. Jede Prio­ri­sie­rung, jedes Sprint-Goal und jedes Sprint-Plan­ning ist damit eigent­lich eine Hypo­the­se über einen erwar­te­ten Kun­den­nut­zen. Gute Hypo­the­sen wer­den sich bewäh­ren und schlech­te wer­den von der Rea­li­tät wider­legt. Dar­um bedeu­tet Agi­li­tät auch mehr als die blo­ße Lie­fe­rung von immer neu­en Inkre­men­ten des Pro­dukts. Ganz wesent­lich ist die sys­te­ma­ti­sche Erfas­sung von Daten über die Wir­kung der Lie­fe­rung, um die damit ver­bun­de­ne Hypo­the­se zu bestä­ti­gen oder zu widerlegen. 

Ein empi­risch-wis­sen­schaft­li­ches Sys­tem muss an der Erfah­rung schei­tern können.

Karl Pop­per, Logik der For­schung 17

Empowerment

Agi­li­tät grün­det auf dem Lean Manage­ment und kann als Anwen­dung der fünf Lean Prin­zi­pi­en auf Soft­ware­ent­wick­lung ver­stan­den wer­den. Der Fokus von Agi­li­tät liegt auf der schnel­len Lie­fe­rung von Kun­den­wert durch funk­tio­nie­ren­de Soft­ware. Und der opti­ma­le Fluss dafür ent­steht im inter­dis­zi­pli­nä­ren selbst­or­ga­ni­sier­ten Team, das den kom­plet­ten Wert­strom von der Idee bis zum Betrieb der Soft­ware abdeckt. 

Im Lean Manage­ment sind alle Mit­ar­bei­ter auf­ge­for­dert und ermäch­tigt, kon­ti­nu­ier­lich Abläu­fe zu hin­ter­fra­gen und an deren Ver­bes­se­rung zu arbei­ten. Die­ses Empower­ment der „ein­fa­chen“ Arbei­ter und damit der Fokus auf den Fak­tor Mensch stellt eine deut­li­che Abkehr von der vor­mals domi­nan­ten tay­lo­ris­ti­schen Denk­wei­se dar: Die­je­ni­gen, die im Pro­zess arbei­ten und nicht mehr ihre Mana­ger, ken­nen die Abläu­fe am bes­ten und sind folg­lich die­je­ni­gen, die die­se am bes­ten opti­mie­ren kön­nen. Tai­i­chi Ōno, der Erfin­der des Toyo­ta-Pro­duk­ti­ons­sys­tems drückt es so aus:

Stan­dards should not be forced down from abo­ve but rather set by the pro­duc­tion workers themselves.

Tai­i­chi Ōno

Die­ses Empower­ment steht im Zen­trum der Agi­li­tät. Nicht der genia­le Mana­ger, son­dern selbst­or­ga­ni­sie­ren­de Teams schaf­fen die bes­ten Archi­tek­tu­ren, Anfor­de­run­gen und Ent­wür­fe, wie es in den Prin­zi­pi­en hin­ter dem Mani­fest für agi­le Soft­ware­ent­wick­lung unmiss­ver­ständ­lich for­mu­liert ist. Und in bes­ter Tra­di­ti­on des Lean Manage­ment sind die­se Teams auch für die kon­ti­nu­ier­li­che Ver­bes­se­rung ihrer Abläu­fe ver­ant­wort­lich: „In regel­mä­ßi­gen Abstän­den reflek­tiert das Team, wie es effek­ti­ver wer­den kann und passt sein Ver­hal­ten ent­spre­chend an.“

Ownership

Viel zu oft wer­den agi­le Metho­den und ins­be­son­de­re Scrum auf die Opti­mie­rung von Arbeits­ab­läu­fen redu­ziert. Die­ses Miss­ver­ständ­nis grün­det auf der Annah­me, dass man nur die vor­han­de­ne Arbeit unter ansons­ten unver­än­der­ten Rah­men­be­din­gun­gen anders und bes­ser orga­ni­sie­ren müs­se, um dann schnel­ler oder anpas­sungs­fä­hi­ger zu wer­den. Die­ser mecha­nis­ti­sche Blick auf Agi­li­tät igno­riert aber völ­lig, dass es eigent­lich um Team­work und Owner­ship geht. Metho­den wie Scrum geben dem Team nur den Rah­men und die Struk­tur, um gemein­sam kon­ti­nu­ier­lich und fokus­siert nicht nur an belie­bi­gen Auf­ga­ben, son­dern an sei­nem Pro­dukt zu arbeiten. 

A team is not a group of peo­p­le that work tog­e­ther. A team is a group of peo­p­le that trust each other.

Simon Sinek

Agi­li­tät heißt, gemein­sam durch Expe­ri­men­te zu ler­nen und dar­aus sowohl die Zusam­men­ar­beit als auch das Pro­dukt kon­ti­nu­ier­lich zu ver­bes­sern. Die­ses Ler­nen funk­tio­niert aber nur, wenn die betei­lig­ten Men­schen wirk­lich als Team agie­ren kön­nen und nicht nur zeit­wei­se und antei­lig zufäl­lig in die­ser Woche mal zusam­men­ar­bei­ten, weil ihre Exper­ti­se gera­de in die­ser Pha­se des Pro­jekts gefragt ist. Der Agi­li­tät ist damit in gewis­ser Wei­se die Owner­ship im Sin­ne der Zuge­hö­rig­keit zu einem Team und der gemein­sa­men Ver­ant­wor­tung für ein Pro­dukt wich­ti­ger als das Exper­ten­tum, das in den meis­ten funk­tio­nal fein-zise­lier­ten Orga­ni­sa­tio­nen Hoch­kul­tur fei­ert. Selbst­ver­ständ­lich wird das Exper­ten­wis­sen benö­tigt, aber eben nicht in dem Exper­ten­si­lo, son­dern dort, wo es zur Wert­schöp­fung ange­wen­det wird.

Titel­bild von Mit­chell Luo via Uns­plash.



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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

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