Diplomatische Widerstandskämpfer

Die Veränderung von Organisationen hin zu mehr Agilität ist immer ein gemeinsamer Kampf für ein besseres Übermorgen. Als Agile Coach baut man Brücken in diese neue Welt – auch und gerade für „das Management". Die Haltung des entschlossenen Untergrundkämpfers für die richtige Sache und gegen „die da oben“ ist zwar attraktiv aber wenig förderlich.

Als über­zeug­ter Agi­list rutscht man leicht in die Rol­le des Wider­stands­kämp­fers und gefällt sich dar­in. Mehr oder weni­ger offen wird dann gegen das Regime des Manage­ments und die dadurch eta­blier­ten Struk­tu­ren und Pro­zes­se von Pla­nung, Anwei­sung und Kon­trol­le agi­tiert. Das ist nach­voll­zieh­bar und löb­lich, weil die­se tat­säch­lich den Grund­wer­ten der Agi­li­tät zuwi­der­lau­fen und es am Ende kein rich­ti­ges Leben im fal­schen geben kann, um des mit den Wor­ten des Phi­lo­so­phen Theo­dor W. Ador­no auszudrücken.

Ein guter Mensch ist nicht immer ein guter Bürger.

Aris­to­te­les

Jede Orga­ni­sa­ti­on benö­tigt Men­schen, die sich die Frei­heit neh­men (dür­fen), um den Sta­tus quo her­aus­zu­for­dern. Das hält leben­dig und ver­hin­dert Selbst­ge­fäl­lig­keit. An den Königs­hö­fen des Mit­tel­al­ters genos­sen die Hof­nar­ren die­se sprich­wört­lich gewor­de­ne Nar­ren­frei­heit. Durch ihre Posi­ti­on außer­halb der sehr stren­gen höfi­schen Hier­ar­chie waren sie oft die ein­zi­gen, denen mehr oder weni­ger ver­kapp­te oder wenigs­tens belus­ti­gend dar­ge­bo­te­ne Kri­tik an den Macht­ha­bern erlaubt war. In Orga­ni­sa­tio­nen neh­men die­se Rol­le heu­te freie Radi­ka­le, Orga­ni­sa­ti­ons­re­bel­len oder eben Agi­le Coa­ches und Scrum Mas­ter ein.

Die­se Rol­len haben also die Auf­ga­be, Kri­tik zu üben und den Sta­tus quo her­aus­zu­for­dern. Ent­schei­dend dabei ist aller­dings die Hal­tung. Weder bei Hofe noch in den heu­ti­gen Kon­zer­nen gelingt das ohne diplo­ma­ti­sches Geschick. Kri­tik muss immer anschluss­fä­hig sein, ansons­ten wird der Kri­ti­ker schnell aus­ge­schlos­sen und abge­schos­sen. Die Irri­ta­ti­on muss in einer Wei­se rei­zen, die ein kon­struk­ti­ves Nach­den­ken dar­über wahr­schein­lich macht. 

Die Men­schen bau­en zu vie­le Mau­ern und zu wenig Brücken

Isaac New­ton

Als Agi­le Coach baut man Brü­cken für alle Men­schen in der Orga­ni­sa­ti­on – auch und gera­de für „das Manage­ment“ – anstatt sich in Schüt­zen­grä­ben zu ver­ste­cken. Es geht nicht um „Wir gegen die“, son­dern um den gemein­sa­men Kampf für ein bes­se­res Über­mor­gen. Die agi­le Trans­for­ma­ti­on gelingt nur gemein­sam und erfor­dert daher neben dem Mut zum Wider­stand und zur Kri­tik auch diplo­ma­ti­sches Fin­ger­spit­zen­ge­fühl. Eine schwie­ri­ge Grat­wan­de­rung für einen über­zeug­ten Agi­lis­ten, bei der man nur all­zu leicht in die attrak­ti­ve, aber destruk­ti­ve Hal­tung des hel­den­haf­ten Wider­stands im Unter­grund abrutscht. 

Titel­bild: raf­fae­le bri­vio auf Uns­plash.



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11 Kommentare

Martin Wettstein 20. Juli 2021 Antworten

Das Pro­blem mit den Mau­ern ist, dass die­se vor allem im Kopf sind und nicht in der Rea­li­tät. Dar­um soll­te ein beherz­ter Tritt in eine sol­che Mau­er, die­se auch zum Ver­schwin­den bringen.

Marcus Raitner 20. Juli 2021 Antworten

Sehr rich­tig. Die Mau­ern und Grä­ben sind in den Köp­fen. Jeden­falls zuerst. Irgend­wann mani­fes­tie­ren sie sich dann.

Nirmalo 20. Juli 2021 Antworten

Mar­cus: „Die Hal­tung des ent­schlos­se­nen Unter­grund­kämp­fers für die rich­ti­ge Sache und gegen „die da oben“ ist zwar attrak­tiv aber wenig förderlich.“

Auch wenn du einen Kriegs­gott im Namen trägst… 

a) Die Ein­stel­lung, „zu kämp­fen“ ist nicht die intel­li­gen­tes­te, sie ist eine archaische. 

b) Die Ein­stel­lung, „gegen die da oben“ eben so wenig; sie setzt die eige­ne Klein­heit vor­aus. Das ist der Rebell auf der Rei­fe­stu­fe (3).

Wer (um-) gestal­ten will, blickt immer „von oben“ auf das Objekt der Gestal­tung (4).

So läßt sich agie­ren, orga­ni­sie­ren, enga­gie­ren, modifizieren. 

Eine sehr hilf­rei­che Ein­stel­lung ist die unter­schwel­li­ge Hei­ter­keit. Denn die Din­ge lau­fen – anders als bei einem Bild­hau­er, Maler, Desi­gner, Archi­tek­ten, Kon­struk­teur – nicht immer rei­bungs­los oder glatt, oder auch nur befriedigend. 

Ent­täu­schung, Frust, Ärger, manch­mal sogar Wut sind hier nahe bei. Zumal wir es hier nicht mit schmerz­frei­en und emo­ti­ons­lo­sen Objek­ten, son­dern mit emp­find­li­chen Egos zu tun haben.

Da kann der ech­te (!) Humor – das Schmun­zeln auch über sich selbst – eine gro­ße Hil­fe sein, die Din­ge den­noch leicht zu sehen, denn:

Es gibt nichts Erns­tes auf die­ser Welt.
Es sei denn, wir den­ken es uns schwer.

Es gibt kein rich­ti­ges Leben im falschen.“ 

― Theo­dor W. Ador­no (Mini­ma Moralia)

Über die­se Brü­cke von Aus­sa­ge wür­de ich nicht blind gehen,
son­dern mir ihre Sta­tik vor­ab etwas genau­er anse­hen wollen.

Mar­cus: „Kri­tik muss immer anschluss­fä­hig sein, ansons­ten wird der Kri­ti­ker schnell ausgeschlossen“

Umge­kehrt auch: Der Kri­ti­ker soll­te ehr­lich (!) wohl­mei­nend sein.

Mar­cus: „Es geht nicht um „Wir gegen die“, son­dern um den gemein­sa­men Kampf für ein bes­se­res Übermorgen.“

War­um eigent­lich nicht das Wort Kampf (Krampf)
gegen das Wort Spiel (Leich­tig­keit) austauschen?

Mut zum Wider­stand“ klingt auch ein biß­chen nach Krieg.

Die Men­schen bau­en zu viele
Mau­ern und zu wenig Brücken.“

― Isaac Newton

Fröh­li­ches Agieren
wünscht Nirmalo

Andre Claaßen 20. Juli 2021 Antworten

Dan­ke für die­se Ant­wort und dan­ke für den Arti­kel. Mein Tipp: Ihr bei­de schreibt mal bei­de einen gemein­sa­men Bei­trag über „Mit Freu­de und Humor in die Ver­än­de­rung“ oder so. Ich mei­ne das Ernst, mit etwas Abstand hat ja unser Agie­ren manch­mal wirk­lich etwas belustigendes.

Marcus Raitner 20. Juli 2021 Antworten

Herr­lich. Dan­ke für die­sen schö­nen Strauß an berei­chern­den und anre­gen­den Gedanken.

Hermann Maier 20. Juli 2021 Antworten

Es ist wohl schwer, sich bei Ver­än­de­rung nicht in Kriegs­rhe­to­rik zu ver­hed­dern. Alles gesag­te gilt für mich nicht nur für Orga­ni­sa­tio­nen son­dern für unse­re Gesell­schaft insgesamt
Wir alle haben Angst vor Ver­än­de­rung. Und trotz­dem ist sie not­wen­dig, wol­len wir auf die­sem Pla­ne­ten über­le­ben. Wir müs­sen so viel ver­än­dern, wie viel­leicht noch nie eine Gene­ra­ti­on vor uns. Lei­der habe ich auch kei­ne gute Idee, wie man eine gro­ße Mehr­heit der Men­schen davon über­zeu­gen kann. Für die Wahl im Sep­tem­ber wäre das aber drin­gend notwendig.
Hof­fen wir, dass es genü­gend diplo­ma­ti­sche Wider­stands­kämp­fer auf allen Ebe­nen der Gesell­schaft gibt!

Marcus Raitner 20. Juli 2021 Antworten

Ja, Her­mann, das gilt auch für die Gesell­schaft ins­ge­samt. Gera­de jetzt, wo unser Per­so­nal in Ber­lin es gera­de nicht schafft Brü­cken zu bau­en, son­dern die Grä­ben – teils auch absicht­lich und kal­ku­liert – vertieft.

Antje 20. Juli 2021 Antworten

Dan­ke, sagt Ant­je. Humor ist, wenn man trotz­dem lacht.

Nirmalo 20. Juli 2021 Antworten

Mit Leich­tig­keit mei­ne ich nicht den Humor, nicht die Belus­ti­gung und auch nicht das trot­zi­ge Lachen, son­dern die ehr­li­che (!) inne­re Hei­ter­keit, die kei­ne Distanz schafft und kei­ne Über­heb­lich­keit bietet. 

Sie ist eher lei­se als laut, aber…,
wie eine Unter­strö­mung, immer gegenwärtig.

Selbst die wich­tigs­te Arbeit ist bei nähe­rer Betrach­tung nur ein Spiel, das wir nicht über Gebühr ernst neh­men müs­sen. Alexis Sor­bas kann uns da ein Leh­rer sein.

Ursel Wolfgramm 24. Juli 2021 Antworten

Ver­än­de­rung braucht Sicher­heit UND Neu­gier­de. Wenn das die Kul­tur im Unter­neh­men ist, gestal­ten alle die Zukunft gemein­sam. Das ist jeden­falls mei­ne Quint­essenz nach über 40 Jah­ren Berufs­er­fah­rung meist in Führungsposition.

Guénola Langenberg 7. September 2021 Antworten

Dan­ke für den Bei­trag, Marcus!
„Jede Orga­ni­sa­ti­on benö­tigt Men­schen, die sich die Frei­heit neh­men (dür­fen), um den Sta­tus quo herauszufordern.“
Jede Orga­ni­sa­ti­on braucht Men­schen, die kri­tisch hin­ter­fra­gen, die neue Ideen ein­brin­gen, um die Din­ge zu ver­bes­sern (Pro­zes­se, Kul­tur, Pro­duk­te), und die ent­spre­chend agie­ren, auch mal ohne Auftrag.
Sie sind Wider­stands­kämp­fer, wenn sie gegen den Strom lau­fen oder an Hier­ar­chien vor­bei ihre Ideen verwirklichen.
Sie sind und müs­sen Diplo­ma­ten und Ver­bin­der sein, wenn sie sich mit ihren Ideen für eine bes­se­re Zukunft ihrer Orga­ni­sa­ti­on einsetzen.
Für mich sind die­se Men­schen nicht nur Agi­le Coa­ches, son­dern Men­schen in unter­schied­li­chen Posi­tio­nen. Ent­schei­dend ist ihre Hal­tung: der Wil­le für die Zukunfts­fä­hig­keit ihrer Orga­ni­sa­ti­on eigen­stän­dig und selbst­be­stimmt aktiv zu sein. Die­se Men­schen sind für mich: Intra­pre­neu­re und Intrapreneurinnen!

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