In den meisten hierarchischen Organisationen herrscht immer noch der Geist des Absolutismus. Alle Macht liegt beim Chef. Er oder sie verwaltet und steuert, erlässt Regeln, überwacht deren Einhaltung und sanktioniert Fehlverhalten. Auch heute gibt es noch genug kleine und große Sonnenkönige: L‘état c‘est moi! Weil die Menschen natürlich immer noch anfällig sind für übermäßige Machtfülle einerseits und andererseits weil die Aufklärung offenbar nur geringen Einfluss auf die Gestaltung moderner Organisationen hatte. Der Vormarsch der Wissensarbeit und das zunehmende Streben nach Agilität führt auch zu einer neuen Aufklärung mit einer ausgeprägteren Gewaltenteilung in den Organisationen.
Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.
Lord Acton
Agilität beruht wesentlich auf Selbstorganisation. In den Prinzipien hinter dem agilen Manifest heißt es unmissverständlich: „Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams.“ Aber nicht nur große Anteile der Arbeitsinhalte liegen in der Hoheit des Teams, auch und insbesondere die Organisation der Arbeit liegt dort. Als Verstärkung dieses Prinzips der Selbstorganisation heißt es nämlich gleich im nächsten Prinzip: „In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und passt sein Verhalten entsprechend an.“
Das agile Manifest ist radikal hierarchiefrei.
Das agile Manifest mit seinen Prinzipien ist radikal hierarchiefrei. Scrum als das bekannteste agile Rahmenwerk führt auch keine Hierarchie ein, überträgt aber doch der Rolle des Product-Owners als Teil des Scrum-Teams die Verantwortung, den durch die Entwickler gelieferten Wert zu maximieren. Mit anderen Worten sorgt der Product-Owner für Effektivität, also dafür, dass an den richtigen Themen gearbeitet wird, während das Entwicklungsteam weiterhin freie Hand behält, diese Themen geeignet umzusetzen. Der Product-Owner bestimmt also das Was und Wozu, das Entwicklerteam das Wie und Womit.
Der Product-Owner als primus inter pares.
Auch wenn es gelegentlich heißt (nicht zuletzt hier in Blog), dass der Product-Owner der CEO des Produkts sei, ist das nicht im absolutistischen oder hierarchischen Sinne (Das Produkt bin ich!) zu verstehen. Scrum schafft damit eine gleichwertige Rolle, die das Produkt inhaltlich führt. Der Product-Owner darf und wird das in enger Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsteam tun, denn am Ende muss dieses Team das Was und Wozu verstanden haben, um mit ihrer Umsetzung den erhofften Wert zu erzielen.
Der Scrum-Master ist ein „Servant Leader“.
Neben dem Product-Owner führt Scrum noch eine weitere Rolle ein: Der Scrum Master ist „Servant Leader“ für das Scrum-Team. Er hilft dabei, die Zusammenarbeit innerhalb des Teams und des Teams mit der Organisation so zu optimieren, dass der durch das Scrum-Team generierte Wert maximiert wird. Die Idee ist es aber nicht, dass der Scrum-Master wie ein Projektleiter oder Lehrer agiert, sondern als Coach das Team in seiner Selbstorganisation unterstützt.
Der Chef bringt menschliches Potential zur Entfaltung.
Bei aller Selbstorganisation und Hierarchiefreiheit stellt sich in der praktischen Umsetzung schon aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen die Frage: Und wer ist nun der Chef im eigentlichen disziplinarischen Sinne? Und was macht der dann eigentlich noch? Neben formalen administrativen Themen (Urlaube, Krankheit, etc.) bleibt nur noch eine, dafür aber entscheidende Aufgabe. Eine Aufgabe, die in der bisherigen absolutistischen Machtfülle je nach persönlicher Neigung gerne mal zu kurz kam. Und diese Aufgabe lautet, menschliches Potential zur Entfaltung zu bringen.
Führen heißt: dem Leben dienen, Leben hervorlocken in den Menschen, Leben wecken in den Mitarbeitern.
Anselm Grün
Nun ist es naheliegend (jedenfalls in der bisherigen absolutistischen Logik), den Product-Owner oder wahlweise den Scrum-Master zum Chef zu machen. Beides führt zu deutlicher Machtverschiebung in Richtung der jeweiligen Rolle. Im extremsten Fall ist nicht nur das Team, sondern auch der Scrum-Master dem Product-Owner disziplinarisch unterstellt, womit mehr oder weniger wieder die alte absolutistische Machtfülle erreicht wäre. Im Sinne einer guten Machtbalance halte ich es für sinnvoller, die disziplinarische Führung im obigen menschlichen Sinne von diesen Rollen getrennt zu halten und ihr damit einen hohen Stellenwert einzuräumen. Ich würde deshalb sogar dazu raten, dass die Mitarbeiter eines Entwicklungsteams unterschiedliche Vorgesetzte haben sollten.
6 Kommentare
Wenn sich das Team selbst organisiert und der Scrum Master der Moderator / Mediator ist, kann das Team ja auch die Resourcenplanung und Fortbildungen organisieren. Außerdem kann das Team durch einen gewählten Vertreter nach außen vertreten (siehe Holokratie).
In der Praxis ergeben sich aber übergreifende Probleme durch Machtspielchen und unterschiedliche Interessenlagen. Es fehlt jemand, der die letzte Entscheidung trifft. Ist das die letzte Aufgabe der Chefs? Den Sinn und Zweck vorgeben und im Zweifelsfall die Entscheidung treffen?
Ja, das Team sollte soviel wie möglich selbst organisieren und der Chef das Team dazu befähigen. Die Rolle rotieren zu lassen ist eine theoretisch nette Übung, stößt praktisch in großen Organisationen aber an formale Grenzen. Wer die Entscheidung im agilen Organisationen trifft ist allerdings klar: Der Product-Owner inhaltliche Entscheidungen des Was und Wozu und das Team entscheidet das Wie (der Umsetzung und der Zusammenarbeit). Den Chef braucht es dazu nicht.
Für mich ist die Fragestellung „Was macht der Chef?“ hauptsächlich davon abhängig, in wie weit das Team in der Lage ist, die Selbstorganisation und Eigenverantwortung wahrzunehmen. Nicht alle Teams sind diesbezüglich gleich weit und können mit der gleichen Menge an Selbstorganisation umgehen, deshalb gibt es ja auch Methodiken wie das Delegation Poker.
Zentral für eine agile Form von Leadership, ist meines Erachtens das der Chef gemeinsam mit dem Product Owner, Scrum Master und dem Team daran Arbeitet den Grad der Selbstorganisation kontinuierlich zu erhöhen, also dem Team hilft die notwendigen Fähigkeiten auf- und auszubauen.
Sehr richtig. Gerade im Übergang zu einer agilen Organisation hat der Chef diese Aufgabe. Oder mit den Worten von Götz W. Werner: „Führung ist heute nur noch legitim, wenn sie die Selbstführung der anvertrauten Mitmenschen zum Ziel hat.“
Ein Team was lange Zeit von einem Sonnenkönig „geführt“ wurde, steht vor einer riesigen Herausforderung wenn es plötzlich einen Chef bekommt der dem Team dienen will. Es bedarf einer Menge an Erklärungen, Unterstützung, persönlicher Gespräche und Mut machen. Aber es passiert dann und das Team ändert seine Arbeitsweise, die Außenwirkung. Dies zu begleiten und zu sehen wie sich jeder einzelne im Team entfaltet, ist meine tägliche Motivation nicht hinzuwerfen.
Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Man muss diese Emanzipation tatsächlich intensiv begleiten, was aber kein Wunder ist, wenn die Menschen eigentlich seit Schulzeiten auf Gehorsam und Unterordnung getrimmt wurden.