Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens in Quarantäne geschickt. Er lag noch im Bett, als die amtliche Nachricht in seiner Gesundheits-App erschien. Bis zum Eintreffen der Behörden sollte er zum Schutze der Allgemeinheit seine Wohnung nicht mehr verlassen, hieß es darin. Ihm war ohnehin nicht nach aufstehen zumute, es waren gestern wohl doch ein oder zwei Gläser Wein zu viel gewesen auf seiner kleinen Geburtstagsfeier.
Vielleicht war die Unterhaltung mit dem Nachbarn, den er gestern auf dem Heimweg getroffen hatte, wegen seiner ausgelassenen Stimmung zu laut oder zu kritisch oder einfach nur zu lang gewesen. Schließlich war der Nachbar den Behörden einschlägig bekannt und wegen seiner kritischen Haltung schon mehrfach verhört worden. Einmal war er sogar 10 Tage lang verschwunden.
Bestimmt hatte die alte Frau aus dem Haus gegenüber etwas mit der Anordnung seiner Quarantäne zu tun. Nichts entging ihren wachsamen Augen, wenn sie, wie auch jetzt gerade wieder, am offenen Küchenfenster lehnte und misstrauisch das Geschehen auf der Straße verfolgte. Im Melden von Verstößen gegen Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht über ihre Gesundheits-App hatte sie eine neue und offenbar überaus erfüllende Aufgabe gefunden. Viel anderes blieb ihr darüberhinaus auch nicht zu tun, seit ihre Enkel sie zu ihrer eigenen Sicherheit nur noch einmal pro Monat für zwei Stunden besuchen dürfen.
Vermutlich war ihr auch der gestrige Spaziergang und das Picknick im Park mit seinen Kindern nicht entgangen. Seit der Scheidung von ihrer Mutter sah er die beiden nur noch selten und gestern war doch sein Geburtstag. Freilich war auch das kein Grund sich einfach mal zu treffen, da waren das Gesetz und die Gesundheitsbehörde unerbittlich. Wenn seine Kinder doch wenigstens ihr Auto weiter weg geparkt hätten und sie sich einfach im Park getroffen hätten, dann hätte die Alte sie vermutlich gar nicht bemerkt.
Vielleicht war K. aber auch nur gestern im Supermarkt bei den Einkäufen für ihr Picknick unaufmerksam gewesen und hatte den vorgeschriebenen Mindestabstand zu oft unterschritten. Die Gesundheits-App, die jeder im öffentlichen Raum auf seinem Smartphone mitzuführen hatte, zeichnete solche Annäherung sofort auf und meldete sie seit dem Update Ende letzten Jahres sofort an die Behörde. Oder seine Mundschutzmaske war ihm kurz verrutscht und die Kassiererin hatte das geflissentlich gemeldet, wozu sie per neuestem Erlass ja auch verpflichtet war.
Jetzt durfte er jedenfalls bis zum Eintreffen der Polizei und der Gesundheitsbehörde seine Wohnung nicht mehr verlassen. Widerstand war zwecklos. Jede Missachtung würde sofort erkannt und gemeldet. Der Chip, den er wie alle anderen Nicht-Immunen seit der Großen Pandemie unter der Haut in seinem Unterarm trug, würde ihn sofort verraten.
Damals schienen diese Chips eine gute Idee zu sein, um den Gesundheitszustand ihres Trägers zu überwachen und ihn bei Symptomen einer Infektion schnell zu warnen. Verbunden mit der Gesundheits-App konnte man diese Warnung einer möglichen Infektion auch per Knopfdruck an alle während der letzten Tage aufgezeichneten Kontakte schicken, um so die Infektionsketten möglichst schnell zu unterbrechen.
Alle waren überglücklich, also sie sich mittels dieser Technik nach einem halben Jahr Lockdown endlich wieder einigermaßen normal bewegen zu konnten. Natürlich war der Zugriff auf seine Gesundheitsdaten, seine Kontakte und seine Aufenthaltsorte anfangs noch streng geschützt gewesen. Nie hätten sonst so viele so bereitwillig mitgemacht. Anfangs hatte er noch volle Kontrolle über die Daten in seiner Gesundheits-App und nur er entschied, wann und ob er sie weitergab. Erst später kam, um die Verbreitung des Virus besser zu erforschen, wie es hieß, der Erlass, der die Gesundheitsbehörde zu vollem Zugriff darauf ermächtigte.
Richtig frei am öffentlichen Leben teilnehmen durften seither nur noch Bürger mit offiziellem Immunitätsnachweis. Für die Immunen waren die Kontakt- und Reisebeschränkungen außer Kraft gesetzt worden. Alle Nicht-Immunen hatten ihren Chip im Arm und trugen die Gesundheits-App immer bei sich. Darüberhinaus waren sie verpflichtet, als Erkennungszeichen in der Öffentlichkeit die von der Behörde ausgegebenen weißen Schutzmasken mit grünem Virus-Symbol tragen.
Anfangs hatte K. auch versucht, einen Immunitätsnachweis zu bekommen. In der Hochphase der Pandemie im Frühjahr 2020 hatte er schließlich auch Fieber gehabt und Husten. Sein Zustand besserte sich damals aber schnell von selbst und er war nie bei einem Arzt und so wurde er nie auf das Virus getestet. Sein Antrag bei der Gesundheitsbehörde war allerdings nach sechs Monaten, mehreren Tests und nicht ganz unerheblichen Verwaltungskosten negativ beschieden worden. Nun konnte er frühestens in einem halben Jahr wieder einen neuen Antrag stellen. Ohne hochrangige Fürsprecher in der Behörde schien ihm das aber reine Zeitverschwendung zu sein.
Fortsetzung folgt – hoffentlich nicht.
Ein Kommentar
Lieber Marcus
auch wenn der Artikel erst 3.5 Monate jung ist, so gibt es doch schon wieder erste Zeichen, die man in Richtung der von Dir so greifbar gezeichneten Dystopie sehen könnte.
Danke nochmals für den Artikel, der nicht treffender meine Bedenken hinsichtlich der Entwicklungen hätte beschreiben können.
Ich bin noch immer der Überzeugung, dass wir unsere Zukunft besser selbst aktiv gestalten und wieder beginnen, in Möglichkeiten statt Problemen, Risiken und Gefahren zu denken.
Ich hoffe, dass wir dies in den nächsten Monaten schaffen.
LG
Ralf