Cynefin (ausgesprochen kuh-NEV-in) ist ein „walisisches Wort, das üblicherweise im Deutschen mit ‚Lebensraum‘ oder ‚Platz‘ übersetzt wird, obwohl diese Übersetzung nicht seine volle Bedeutung vermitteln kann. Eine vollständige Übersetzung des Wortes würde aussagen, dass wir alle mehrere Vergangenheiten haben, derer wir nur teilweise bewusst sein können: kulturelle, religiöse, geographische, stammesgeschichtliche usw.“ (Wikipedia)

Die fünf Domänen des Cynefin-Frameworks
Im wesentlichen sagt das Cynefin-Framework aus, dass Situationen oder Kontexte von sehr verschiedener Natur sein können und deshalb ganz unterschiedliche Herangehensweisen notwendig machen. David Snowden unterscheidet dazu fünf Domänen: Einfach (simple) bzw. offensichtlich (obvious), kompliziert (complicated), komplex (complex), chaotisch (chaotic) und die Unordnung (disorder).
Für einfache oder offensichtliche Situationen gibt es Checklisten, Prozesse und erprobte Patentrezepte. Hier geht es eigentlich nur darum, die Situation zu erfassen (sense), in die richtige Schublade zu greifen und mit der entsprechenden Lösung zu reagieren. Wenn im Auto beispielsweise eine Warnlampe leuchtet, findet sich im Handbuch in der Regel eine Anweisung, was zu tun ist und wie es zu tun ist (etwa Öl nachfüllen).
Kompliziert wird es dann, wenn das Handbuch keinen Rat mehr bietet. Wenn man also das Öl im Motor überprüft und nachgefüllt hat und die Warnlampe immer noch leuchtet. Weil es dafür kein beschriebenes Patentrezept mehr gibt, fährt man zu einem Experten in die Werkstatt. Mit genügend Wissen und Erfahrung kann der Experte das Problem analysieren und aus verschiedenen Handlungsoptionen die vielversprechendste wählen.
To manage a system effectively, you might focus on the interactions of the parts rather than their behavior taken separately.
Russel Ackoff
Etwas Kompliziertes lässt sich von Experten zerlegen und kann über seine Komponenten verstanden werden. Das Ganze ist die Summe seiner Teile. Für komplexe Situationen gilt genau das nicht mehr. Unser Gehirn ist ein kompliziertes Geflecht aus Neuronen und die biochemischen Vorgänge darin lassen sich durchaus von Experten verstehen. Was in diesem Geflecht aber von mir gedacht wird, kann nicht über Analyse der Komponenten vorhergesagt werden. Komplexe Systeme sind stets mehr als die Summe der Teile, sie sind das Produkt der Interaktionen. Ursache-Wirkungs-Beziehungen können in komplexen Systemen und Situationen deshalb nicht durch Zerlegung und Analyse erforscht werden, sondern müssen empirisch erforscht werden, um sie sich dadurch zu erschließen (und so wenigstens teilweise in den komplizierten Bereich zu verlagern).
Eine chaotische Situation schließlich ist dadurch gekennzeichnet, dass es keine erkennbare Ursache-Wirkungs-Beziehung gibt und dennoch oft unter extremen Zeitdruck gehandelt werden muss. Der Terroranschlag auf das World-Trade-Center am 11. September 2001 war beispielsweise eine solche Situation. In einer solchen Situation geht es zunächst immer darum, wieder Ordnung und Stabilität herzustellen und sie so Schritt für Schritt in eine komplexe Situation zu transformieren.
In all chaos there is a cosmos, in all disorder a secret order.
Carl Jung
Und wenn gar nicht klar ist, welche der vier genannten Domänen im Moment überwiegt, nennt David Snowden das Unordnung (disorder). Als erstes geht es in einer solchen Situation darum, wenigstens für einzelne Ausschnitte davon die richtige Domäne (einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch) zu bestimmen und entsprechend zu handeln.
Einordnung der Corona-Pandemie
In welcher Domäne des Cynefin-Frameworks befinden wir uns also im Moment angesichts der SARS-CoV‑2 Coronavirus-Pandemie? Die Situation ist sicherlich alles andere als einfach oder offensichtlich und sie ist auch nicht kompliziert, weil Ursache-Wirkungs-Beziehungen auch den Experten vielfach noch unklar sind. Wir bewegen uns also irgendwo zwischen komplex und chaotisch oder besser gesagt auf dem Weg von chaotisch zurück zu komplex.
Die ersten Reaktionen in den meisten Ländern war die sehr abrupte Einschränkung des öffentlichen Lebens bis hin zum kompletten Lockdown. Diese Maßnahmen haben zunächst geholfen, das Chaos zu reduzieren und mehr Stabilität herzustellen. Anschließend muss es – nun in der komplexen Domäne angekommen – darum gehen, Wirkzusammenhänge besser zu verstehen durch empirische Erforschung. Was behindert oder fördert die Verbreitung des Virus in der Gesellschaft? Welche Maßnahmen wirken und welche sind eher wirkungslos?
Damit dies möglichst gut und schnell gelingt, braucht es Diversität und Dissens. Verschiedenartige Herangehensweisen und Maßnahmen in den einzelnen Ländern, Bundesländern oder sogar Städten sind kein Fehler, sondern eine gute Möglichkeit gemeinsam schneller zu lernen. Das setzt aber zweierlei voraus. Einerseits, müssen wir diese Unterschiedlichkeit in der Variation der Maßnahmen in gewissem Rahmen zulassen und anerkennen und andererseits brauchen wir aber einen möglichst einheitlichen Maßstab, wie die Wirkung davon bewertet werden soll und verglichen werden kann.
In meiner Wahrnehmung haben wir derzeit Defizite in beiderlei Hinsicht. Zum einen verstricken sich Experten und Laien angesichts der Unterschiedlichkeit in verbissene Kämpfe über die einzig richtigen Maßnahmen und warum die anderen Maßnahmen tendenziell Leben gefährden und deshalb verantwortungslos sind. Zum anderen verändern sich aber auch die Zielgrößen ständig. Am Anfang war die Verdopplungszeit der Fallzahlen viel beachtet, dann die Todesfälle, dann die Anzahl der freien Betten in Intensivstationen (die freilich erst mühsam erfasst werden mussten) und jetzt ist es der Reproduktionszahl R, der unbedingt deutlich unter 1 gedrückt werden muss.
Hilfreich wäre es in dieser Phase also insbesondere, die wesentlichen Zielgrößen nachvollziehbar festzulegen und dafür zu sorgen, dass sie mit dem kleinstmöglichen zeitlichen Verzug in der bestmöglichen Qualität kontinuierlich erfasst werden und allen transparent sind. Hier haben wir in Deutschland leider noch erhebliche Nachholbedarfe in punkto Digitalisierung (Fax!), was uns nun schmerzlich trifft, weil die Feedbackzyklen sich dadurch erheblich verlängern.