Führung beginnt mit Selbstsorge

Wer Verantwortung für andere übernimmt, muss auch verantwortlich mit den eigenen Kräften umgehen. Wer sich als Führungskraft aufopfert und ständig überfordert, wird auch die Organisation und die anvertrauten Mitarbeiter überfordern. Die Folge ist eine Kultur des hysterischen Beschäftigtseins, in der Beschäftigung zum eitlen Selbstzweck wird.

Er kommt immer als Ers­ter und geht als Letz­ter. Müdig­keit kennt er nicht und Krank­heit igno­riert er. Vier Stun­den Schlaf müs­sen rei­chen, schließ­lich gibt es so viel zu tun und er wird bei allem gebraucht. Er wür­de ja ger­ne auch mal Urlaub machen, aber ohne ihn läuft es ein­fach nicht. Dar­um ist er immer erreich­bar und ver­füg­bar. Sein Ein­satz für die Fir­ma kennt kei­ne Gren­zen. Sein Fleiß ist legen­där und die Trieb­kraft hin­ter sei­nem schnel­len Auf­stieg in der Firma. 

Eigent­lich hat­te ich mir vor­ge­nom­men, auf gen­der­ge­rech­te Spra­che zu ach­ten. Für die Beschrei­bung die­ser hel­den­haf­ten Füh­rungs­kraft schien mir die rein männ­li­che Form aber trotz­dem ange­bracht. In mei­ner Wahr­neh­mung ist die­ses Hel­den-Epos ein sehr männ­li­ches. Natür­lich soll das nicht hei­ßen, dass bei Frau­en die­se Mus­ter nicht auf­tre­ten, in der Pra­xis erle­be ich sie in den weit­aus meis­ten Fäl­len aber bei Män­nern. Die Grün­de für die Unter­schie­de zwi­schen den Geschlech­tern sind bestimmt viel­fäl­tig, tun aber hier wei­ter nichts zur Sache. Die eigent­li­che Fra­ge ist viel­mehr, ob die­se hel­den­haf­te Auf­op­fe­rung den Men­schen und der Orga­ni­sa­ti­on dient.

Solan­ge man Hel­den oder Schul­di­ge braucht, um eine Situa­ti­on plau­si­bel zu erklä­ren, hat man sie noch nicht verstanden.

Ger­hard Wohland

Die Geschich­te der Mensch­heit ist voll von Hel­den­tum. Wir lie­ben Hel­den­ge­schich­ten. Des­halb bewun­dern wir Feu­er­wehr­leu­te, die unter Ein­satz ihres Lebens Brän­de löschen. Den unzäh­li­gen Brand­schutz­be­auf­trag­ten, die gleich­mü­tig und gedul­dig tag­ein, tag­aus Brän­de ver­hin­dern und damit ver­mut­lich sogar mehr Men­schen ret­ten, wird weit­aus weni­ger Auf­merk­sam­keit zuteil. Ohne Rauch und Lebens­ge­fahr kein Hel­den­tum. Vor­beu­gung ist nicht sehr heldenhaft. 

Es gibt zwei­fel­los Situa­tio­nen, die vol­len und teil­wei­se hel­den­haf­ten Ein­satz erfor­dern. Feu­er­wehr­leu­te arbei­ten aber nur im Ein­satz so und die­se Ein­sät­ze sind die Aus­nah­me. Die weit­aus meis­te Zeit ver­brin­gen Feu­er­wehr­leu­te damit zu war­ten, sich und ihr Mate­ri­al vor­zu­be­rei­ten, zu ler­nen und zu üben. Und das ist gut so, denn immer im Ein­satz zu sein, wür­de zu Feh­lern füh­ren und wäre für alle Betei­lig­ten im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes brandgefährlich.

Kom­men wir zurück zu unse­rem „Hel­den“. Er opfert sich im Ein­satz für sei­ne Arbeit, die Kar­rie­re, den Sta­tus und die Orga­ni­sa­ti­on auf und das nicht nur im Ernst­fall, son­dern als Grund­hal­tung. Ohne Fra­ge ist das nicht gesund, aber am Ende dür­fen Erwach­se­ne Men­schen immer noch frei ent­schei­den, was sie sich zumu­ten und wel­che Lebens­ri­si­ken sie ein­ge­hen. Jen­seits der per­sön­li­chen Auf­op­fe­rung und dem damit ver­bun­de­nen Risi­ko für die Gesund­heit bleibt also die Fra­ge, ob sich die­ser hel­den­haf­te Ein­satz wenigs­tens für die Orga­ni­sa­ti­on lohnt und des­halb Bewun­de­rung und Beför­de­rung verdient.

Mit sei­nem Ein­satz bewirkt und bewegt er hof­fent­lich viel. Wol­len wir zu sei­nen Guns­ten anneh­men, dass unser Held über­mensch­li­che Fähig­kei­ten hat und dass er auch mit wenig Schlaf an lan­gen Arbeits­ta­gen noch gute Arbeit leis­ten kann. Aber selbst unter die­ser sehr gut­mü­ti­gen Annah­me, dass er auch unter die­sen Bedin­gung noch sei­ne bes­te Leis­tung bringt, bleibt ein ande­res und viel schwer­wie­gen­de­res Pro­blem. Das Ver­hal­ten eines sol­chen Chefs prägt die Kul­tur. In die­sem Fall führt es zu einer unge­sun­den Prä­senz- und Leis­tungs­kul­tur. Ambi­tio­nier­te Mitarbeiter:innen wer­den es ihm gleich­tun und ver­su­chen, ihn zu über­trump­fen, denn offen­bar sind Fleiß und bedin­gungs­lo­ser Ein­satz die wesent­li­chen Kri­te­ri­en für Aner­ken­nung und Aufstieg.

Nie­mand aber wird in einer sol­chen über­stei­ger­ten Leis­tungs­kul­tur auf lan­ge Sicht zufrie­den und erfolg­reich sein, auch unser Held selbst nicht. Viel­mehr wird die Stim­mung geprägt sein von Druck, Angst, Schuld und Bit­ter­keit, wie Anselm Grün sehr tref­fend ausführt:

Wer Ver­ant­wor­tung für ande­re über­nimmt, muss auch ver­ant­wort­lich mit den eige­nen Kräf­ten umge­hen. Wenn er sich stän­dig über­for­dert, wird er auch der Gemein­schaft nicht wirk­lich hel­fen. Denn er wird dann von der Gemein­schaft mehr ver­lan­gen, als sie zu leis­ten imstan­de ist. Wenn ich mich für die ande­ren ver­aus­ga­be, wer­de ich unbe­wusst auch Ansprü­che dar­an knüp­fen, etwa den Anspruch, dass die ande­ren mir das dan­ken oder sich genau­so enga­gie­ren müß­ten. Wenn die Gemein­schaft die­se Erwar­tun­gen nicht erfüllt, wer­de ich bit­ter. Ich wer­de dann mit mei­ner Arbeit ein dau­ern­der Vor­wurf für die Gemein­schaft und in den Mit­ar­bei­tern Schuld­ge­füh­le hervorrufen.

Anselm Grün (2007). Men­schen füh­ren – Leben wecken: Anre­gun­gen aus der Regel Bene­dikts von Nursia.

Füh­rung beginnt mit Selbst­sor­ge. Wer Ver­ant­wor­tung für ande­re über­nimmt, muss auch ver­ant­wort­lich mit den eige­nen Kräf­ten umge­hen, for­dert Anselm Grün des­halb zu Recht. Eine gehetz­te Füh­rungs­kraft ver­brei­tet Hek­tik und Het­ze und för­dert eine Kul­tur des hys­te­ri­schen Beschäf­tigt­seins, in der die Beschäf­ti­gung zum Ziel und eit­len Selbst­zweck wird, wäh­rend die Wert­schöp­fung und die Gemein­schaft in den Hin­ter­grund tre­ten. Eine Füh­rungs­kraft, die in sich ruht und mit Gleich­mut und Gelas­sen­heit ihrer Arbeit nach­geht wird hin­ge­gen eine Atmo­sphä­re der Ruhe und der Sicher­heit erzeu­gen. In die­ser Ruhe liegt schließ­lich die Kraft eines gleich­mä­ßi­gen Arbeits­flus­ses im gesun­den und nach­hal­ti­gen Wech­sel­spiel von Anspan­nung und Entspannung.

Mit ein wenig Weh­mut erin­ne­re ich mich an die­ses Zusam­men­tref­fen mit Pater Anselm Grün im Febru­ar 2020 in einer Zeit in der mensch­li­che Nähe noch nicht ver­däch­tig und gefähr­lich war.

In die­sem Punkt sind sich der hei­li­ge Bene­dikt von Nur­sia, auf den sich Anselm Grün in sei­nen Aus­füh­run­gen bezieht, und die Autoren des Mani­fests für agi­le Soft­ware­ent­wick­lung erstaun­lich einig. Ein bei der gan­zen Hek­tik von schnel­ler Lie­fe­rung in kur­zen Sprints lei­der leicht zu über­se­hen­des Prin­zip hin­ter dem agi­len Mani­fest lau­tet näm­lich: „Agi­le Pro­zes­se för­dern nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung. Die Auf­trag­ge­ber, Ent­wick­ler und Benut­zer soll­ten ein gleich­mä­ßi­ges Tem­po auf unbe­grenz­te Zeit hal­ten kön­nen.“ Die­se maß­vol­le Nach­hal­tig­keit hät­te Bene­dikt von Nur­sia sicher­lich auch gefallen.



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