In der Informatik werden zur näherungsweisen Berechnung sehr schwieriger Probleme (für die Kenner der Materie: NP-vollständige Probleme) gerne heuristische Optimierungsverfahren eingesetzt. Viele dieser Verfahren starten mit einer zufälligen Lösung und verbessern diese Lösung dann Schritt für Schritt. Es werden also verschiedene neue Lösungen in der Nachbarschaft der aktuellen bewertet, um dann die beste davon zu wählen und das Verfahren mit dieser fortzusetzen bis keine der benachbarten Lösungen eine Verbesserung bringt.
Das ist in etwa so, wie wenn man beim Bergsteigen versucht, den höchsten Gipfel dadurch zu finden, dass man immer dem Weg mit der lokal höchsten Steigung folgt. Dann kommt man zwar sicher zu einem Gipfel, nämlich dann wenn alle Wege nur wieder nach unten führen, in der Regel wird das aber nicht der höchste sein, sondern eben nur ein beliebiger Gipfel, ein lokales Optimum. Um den noch höheren Gipfel dahinter oder daneben zu erklimmen, geht es dann erst einmal wieder bergab.
Deshalb erlauben solche Optimierungsverfahren gelegentlich auch eine Verschlechterung des Zielwerts und besonders raffinierte Verfahren erlauben zu Beginn größere Verschlechterungen und reduzieren den Grad der erlaubten Verschlechterung im Laufe der Berechnung (für die Kenner der Materie heißt das Stichwort Simulated Annealing). Dadurch lassen sich lokale Optima in einem gewissen Rahmen überwinden. Wer also hoch hinaus will, muss zwar viel nach oben steigen, aber von Zeit zu Zeit auch mal wieder nach unten.
Ähnlich ist es im Unternehmen. Natürlich ist es gut und unerlässlich, Produkte und Prozesse kontinuierlich zu verbessern. Am Ende landet man damit aber nur in einem lokalen Optimum. Es erfordert eine gewisse Demut der Führung, das zu erkennen und dann wie beim Bergsteigen aus dieser erhöhten und komfortablen Position ein noch höheres Ziel ins Auge zu fassen und sich trotz der damit zwangsweise einhergehenden, aber auch vorübergehenden Verschlechterung nicht davon abbringen zu lassen.
The manager accepts the status quo; the leader challenges it.
Warren Bennis
Führung ist daher auch die Kunst, sich selbst und andere immer wieder aus der Komfortzone herauszulocken und trotz anfänglicher Widerstände den Weg zu neuen Gipfeln zu suchen auch und gerade wenn dieser Weg erst mal steinig erscheint und nach unten führt. Insofern bedeutet Führung immer auch die Störung der heutigen Komfortzone in Hinblick auf eine langfristige Vision, die Richtung und Stabilität gibt und beim Durchschreiten von Tälern hilft. Erst diese Stabilität in der Ausrichtung verleiht der Störung konstruktive Kraft und Sinn.
Damit ergibt sich allerdings ein ziemlich großes Spektrum an Fähigkeiten einer guten Führungskraft. Einerseits soll sie für Stabilität sorgen in Form einer attraktiven und sinnvollen Vision und in Form von klaren Rahmenbedingungen. Andererseits soll sie die Ruhe auch immer wieder stören und den Status quo hinterfragen. Je nach persönlicher Neigung werden diese beiden Pole unterschiedlich stark angelegt und ausgeprägt sein. Jeder Mensch hat seine Präferenzen und Erfahrungen.
Ziel muss es auch hier sein, Stärken zu stärken und Schwächen irrelevant zu machen, wie das Peter F. Drucker so treffend fordert. Bis zu einem gewissen Grad wird jede Führungskraft die Dimensionen Stabilität und Störung selbst ausprägen können, aber am Ende wird immer eine Neigung zu einer Dimension bleiben. Diese Schwäche in der anderen Dimension irrelevant zu machen kann dann auch bedeuten, in einem Führungsteam entsprechend komplementäre Stärken zu vereinen. Wer sich eher an stabilen Prozessen und geregelten Abläufen erfreut und nicht so sehr zur permanenten Herausforderung und Störung des Status quo neigt, darf sich gern durch Hofnarren und andere rebellische Geister ergänzen.
In Scrum wird dieser störende Aspekt von Führung für den Scrum-Master sogar explizit gefordert. Der Scrum-Guide beschreibt nämlich, dass der Scrum-Master nicht nur dem Team und dem Product-Owner hilft, besser zu werden, sondern eben auch der Organisation. Und in genau dieser oft vergessenen Funktion geht es darum, der Organisation den Spiegel vorzuhalten und aufzuzeigen, welche Rahmenbedingungen und Abläufe dem Team helfen und welche nicht. Veränderung braucht Störung und hat im Scrum deshalb eine eigene Führungsrolle bekommen.
Wer führt, darf nicht nur den Status quo verwalten und erhalten, sondern muss sich und die Organisation immer wieder herauszufordern. Führung ist immer eine Gratwanderung zwischen Stabilität und Störung. Ohne Störung der Komfortzone wird die Organisation träge und selbstgefällig. Das gemütliche Picknick auf dem so sicher und hoch erscheinenden Gipfel findet dann ein jähes Ende, wenn der Konkurrent plötzlich seine Fahne auf dem viel höheren Gipfel nebenan hisst. Diese Störung von außen kommt dann aber zu spät und trifft auf eine Organisation, die in ihrer Trägheit nicht damit umgehen kann.