Für Winston Churchill war klar, dass ohne Mut alle anderen Tugenden bedeutungslos werden. Nicht nur gesellschaftlich und politisch brauchen wir den Mut so dringend wie schon lange nicht mehr, auch unseren Unternehmen und ihren Mitarbeitern täte mehr Mut gut. Wir brauchen einen Mutanfall, wie Harald Schirmer das ausdrückt, um traditionelle Organisationen zukunftsfähig zu gestalten. Das bisherige absolutistisch-hierarchische Bauprinzip hat endgültig ausgedient. Unsere Unternehmen brauchen im Zeitalter von Digitalisierung und Wissensarbeit eine neue Aufklärung mit konsequenterer Gewaltenteilung. Immanuel Kants Leitspruch für die Aufklärung sollte deshalb über jeder Pforte stehen: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Das wichtigste Dokument im Silicon Valley
Without courage all virtues lose their meaning.
Winston Churchill
Im Jahr 2009 veröffentlichte Patty McCord als ehemalige Chief Talent (sic!) Officer das Culture Statement von Netflix. Die 125(!) Folien zur Kultur bei Netflix wurden seither unglaubliche 18 Millionen mal aufgerufen und wurden von Facebooks COO Sheryl Sandberg als das wichtigste Dokument aus dem Valley bezeichnet.
Auch nach der Überarbeitung im letzten Jahr hat das Statement in seiner aktuellen Fassung nichts von seiner ursprünglich Kraft verloren. Immer noch ist, ganz im Sinne Churchills, Mut nicht nur einer von neun anderen (sehr interessant ausformulierten) Werten bei Netflix, sondern hat eine besondere Stellung, indem damit explizit auch der Mut gemeint ist, Inkonsistenzen zwischen diesen postulierten und den gelebten Werten offen anzusprechen.
Hofnarren und Rebellen
It’s easy to write admirable values; it’s harder to live them. In describing courage we say, “You question actions inconsistent with our values.” We want everyone to help each other live the values and hold each other responsible for being role models. It is a continuous aspirational process.
Netflix Culture Statement
Diese explizite Erlaubnis, mutig Abweichungen von der Idealkultur zu thematisieren gibt allen Mitarbeitern genau die „Narrenfreiheit“, mit der Hofnarren im Mittelalter moralische Verfehlungen ansprechen konnten. Und das macht den entscheidenden Unterschied zu genauso geschliffen formulierten, aber oftmals als inhaltsleer oder weltfremd erlebten Wertekanons vieler anderer Organisationen. (In der ursprünglichen Fassung des Netflix Culture Statements nehmen Patty McCord und Reed Hastings auch explizit Bezug auf den Enron-Skandal).
Ein guter Mitarbeiter nicht immer ein angepasster Mitarbeiter.
Wo diese Erlaubnis fehlt, darf man sich trotzdem ganz im Sinne des Leitspruchs von Immanuel Kant seines Verstandes bedienen und sich dabei auf das Konzept des zivilen Ungehorsams stützen, wie es auch viele Organisationsrebellen tun. Sie identifizieren sich mit ihrer Organisation und dem eigentlichen Zweck dieser Organisation, aber nicht notwendigerweise mit allen damit nicht kohärenten Regeln oder einer als hinderlich empfundenen Organisationskultur. Sie arbeiten nicht gegen die Organisation, vielmehr hat ihr Regelbruch immer die Verbesserung der Organisation zum Ziel. Ihr Andersdenken und Andersmachen ist dadurch die entscheidende Störung, um Organisationen vor Selbstgefälligkeit und Trägheit zu bewahren.
Kontext statt Kontrolle
The leader’s job at every level is to set clear context so that others have the right information to make generally great decisions.
Netflix Culture Statement
Die auch hier schon öfters behandelte Frage, wie man Rebellen oder auch nur Wissensarbeiter „artgerecht“ im Sinne der notwendigen Selbstorganisation führt wird bei Netflix auf diese einfache Formel gebracht: Kontext statt Kontrolle (Context not Control). Die wichtigste Führungsaufgabe ist es, den Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter so zu gestalten, dass diese Mitarbeiter eigenständig entscheiden können. Und anders als viele andere Top-Manager rühmt sich Reed Hastings deshalb auch, dass er bei Netflix möglichst wenig Entscheidungen trifft. Eine mutige Haltung, die zu mutigen Mitarbeitern führt und die hoffentlich viele Nachahmer findet!
4 Kommentare
Vielleicht ist Mut tatsächlich so eine Primär-Tugend wie „Zivilcourage“ oder „konstruktiver Ungehorsam“.
Ich persönlich meine, dass es ein Bildungsziel sein sollte, Menschen es zu ermöglichen, in Freude und mit Mut zu leben (und dann auch zu arbeiten, denn die Arbeit ist ja nur ein Teil meines Lebens.
Danke für die schönen Artikel, die ja auch kostenfrei sind :-)
Roland
Ähnliche Gedanken gingen mir in den letzten Tagen auch durch den Kopf. Bildungsziel ist heute leider oft noch Angepasstheit und Erfüllung von Normen.
Die Welt ist komplex und in Unternehmen herrscht immer mehr die Wertschöpfung der Ausnahme. Daher braucht es für mich Organisationen, die den Nährboden für Mut und Innovation bereitstellen. Das gilt für die Wirtschaft genauso wie für den Bildungsbereich.
Es gibt viele zarte Pflänzchen in unserem Land, die das schon tun. Machen wir sie sichtbar und ermutigen Menschen es ihnen gleichzutun. Dafür haben wir uns zur Initiative #Mutland zusammengeschlossen.
#Mutland klingt vielversprechend! Mehr davon bitte.
Danke für deinen Kommentar, lieber Roland. Mut als Bildungsziel wäre tatsächlich sehr schön. Im Moment scheint mir allerdings das primäre Bildungsziel Anpassung und Unterordnung zu sein.