Das Register

Die Fortsetzung meines dystopischen Romanfragments "2024 – Kafka trifft Orwell" über die Absurdität des überwachten Alltags vier Jahre nach Ausbruch der großen Pandemie. Eine Fortsetzung, die ich gehofft hatte nie schreiben zu müssen.

Seit ges­tern stand K. unter Arrest. Grün­de wur­den kei­ne genannt. Das wur­den sie in Fäl­len wie dem sei­nen aller­dings nie. Es war auch nicht nötig, die Gesund­heits­be­hör­de hat­te genü­gend Grün­de, immer und gegen jeden. Zu wenig Bewe­gung, zu unge­sun­de Lebens­mit­tel ein­ge­kauft, zu oft Fast Food, zu viel Kon­takt mit den ver­däch­ti­gen Sub­jek­ten und dann noch Alko­hol oder Nikotin. 

Die Über­wa­chung war lücken­los und die Algo­rith­men zur Aus­wer­tung kann­ten kein Erbar­men. Alles im Namen der Volksgesundheit.

K. hat­te die Nach­richt sei­ner Ver­haf­tung ges­tern auf sei­ner Gesund­heits-App erhal­ten. Für einen Monat stand er nun unter Arrest. Sol­che Maß­nah­men zur Ein­däm­mung, wie es viel­deu­tig hieß, waren seit der gro­ßen Pan­de­mie von zwei Jah­ren zur Rou­ti­ne gewor­den. Algo­rith­men bewer­te­ten seit­her das Ver­hal­ten der Bür­ger von Jahr zu Jahr fein­ma­schi­ger und exe­ku­tie­ren die gesetz­li­chen Regeln bei zu vie­len Abwei­chun­gen gnadenlos. 

Kein ein­zi­ger Poli­zist, kein ein­zi­ger Staats­an­walt oder gar Rich­ter muss­te sich damit beschäf­ti­gen. Der Befehl zum Arrest erscheint ein­fach auf der Gesund­heit-App und tritt damit unver­züg­lich in Kraft. Irr­tum aus­ge­schlos­sen, Wider­spruch unmöglich.

Der Arrest war eigent­lich kei­ner im vor­pan­de­mi­schen Sin­ne. Ober­fläch­lich betrach­tet jeden­falls nicht. K. durf­te die Woh­nung ver­las­sen und sich in sei­nem Stadt­vier­tel frei bewe­gen. Das war jedoch kein Akt der Gna­de, son­dern Teil der Stra­fe. So muss­te K. täg­lich das rege öffent­li­che Leben der brei­ten gehor­sa­men Mas­se anse­hen, wel­ches ihm selbst aber wegen sei­ner Ver­feh­lun­gen wäh­rend sei­nes Arrests ver­wehrt blei­ben musste. 

K. woll­te daher lie­ber in der Woh­nung blei­ben. Er wuss­te von sei­nem letz­ten Arrest im Som­mer schon genau, was ihn drau­ßen erwar­ten wür­de. Weit weg konn­te er ohne­hin nicht. In jedem öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel muss­te er mit sei­ner Gesund­heits-App ein­che­cken und weil er unter Arrest stand, wür­de ihm das nicht erlaubt sein. 

Selbst wenn er sich zu Fuß oder mit dem Fahr­rad fort­be­we­gen wür­de, er käme nicht weit. Die App wür­de an den Gren­zen sei­nes Stadt­vier­tels sofort Alarm schla­gen und die Dau­er sei­nes Arrests wür­de sich auto­ma­tisch verdoppeln.

Am Ende der Pan­de­mie war K. noch froh gewe­sen, über die Gesund­heits-App sei­nen Immu­ni­täts­staus nach­wei­sen zu kön­nen und so wie­der einen Teil der Frei­heit zurück­zu­be­kom­men. Damals gab es auch noch kei­ne zen­tra­le Daten­bank dahin­ter, son­dern nur die App. Nach und nach erst wur­de aus dem Immu­ni­täts­nach­weis auf dem eige­nen Smart­phone das zen­tra­le Immu­ni­täts­re­gis­ter und dar­aus das zen­tra­le Gesund­heits­re­gis­ter und dar­aus schließ­lich ange­rei­chert mit vie­len wei­te­ren Daten­quel­len das, was heu­te nur noch Das Regis­ter hieß.

Nie­mand hät­te die­ses Maß an Digi­ta­li­sie­rung, Big Data und AI einem Staats­ap­pa­rat zuge­traut, der noch wäh­rend der gro­ßen Pan­de­mie die Daten zu den Infek­tio­nen mit Fax­ge­rä­ten zusam­men­trug und in Excel­lis­ten bereit­stell­te. K. hat­te sich in die­sem Punkt wie so vie­le getäuscht, genau­er gesagt hat­te er den Ein­fluss der wil­li­gen Hel­fer aus dem Sili­con Val­ley unter­schätzt. Durch die Pan­de­mie waren die Regie­run­gen zu stark an ent­spre­chen­der Über­wa­chungs- und Aus­wer­tungs­soft­ware inter­es­siert und gleich­zei­tig der Wider­stand der Bevöl­ke­rung prak­tisch nicht vor­han­den. Und an Geld für die „gute Sache“ man­gel­te es sowie­so nie.

Auch die Gesund­heits-App hat­te schon lan­ge nichts mehr mit Gesund­heit zu tun. Sie war mitt­ler­wei­le der Schlüs­sel zur Teil­nah­me am öffent­li­chen Leben. In jedem Ver­kehrs­mit­tel, Geschäft, Zoo, Schwimm­bad, etc. muss­te man mit der App ein­che­cken. Die App war das Mario­net­ten­seil des Regis­ters zu jedem Bür­ger. Bei jedem Ein­che­cken schick­te die App einen klei­nen Prüf­auf­trag an das Regis­ter. Und das ant­wor­te­te umge­hend mit einem grü­nen Dau­men nach oben oder einem roten nach unten.

War jemand unter Arrest wie eben der­zeit K. so gab es nur weni­ge Orte, wo ihm das Regis­ter noch Zugang gewähr­te. Eigent­lich waren das nur noch die aller­nö­tigs­ten Geschäf­te des täg­li­chen Lebens. Und das auch nur in sei­nem Stadtviertel.

Er hat­te zwar kei­ne Lust, mach­te sich aber trotz­dem auf den Weg zum Super­markt. Der Kühl­schrank war leer bis auf ein paar Fla­schen Bier, die aber sei­nem Gesundsheits­score noch wei­ter gescha­det hät­ten und das konn­te er sich wäh­rend des Arrests nicht erlau­ben. Es wür­de wie­der ein Spieß­ru­ten­lauf wer­den. Das kann­te K. von sei­nem letz­ten Arrest.

Auf eine beklem­men­de und unheim­li­che Wei­se wichen ihm die Men­schen auch die­ses Mal wie­der auf der Stra­ße aus. Sie kann­ten ihn nicht und er kann­te sie nicht, aber sie wichen ihm defi­ni­tiv aus. Sie wech­sel­ten die Stra­ßen­sei­te oder die Rich­tung, quetsch­ten sich an Haus­mau­ern und in Ein­gän­ge oder dreh­ten ihm den Rücken zu.

Äußer­lich war er der­sel­be wie ges­tern. Der Umstand sei­nes Arrests war ihm nicht anzu­se­hen und doch wuss­te jeder Bescheid und ver­mied die Begeg­nung mit ihm. 

Sobald ein ver­däch­ti­ges oder gefähr­li­ches Sub­jekt wie K. in der Nähe war, warn­te die App alle Betrof­fe­nen augen­blick­lich. Mit Aug­men­ted Rea­li­ty konn­te jeder die Umge­bung nach ver­däch­ti­gen Sub­jekt wie ihm absu­chen und ihnen aus dem Weg gehen, was mit den neu­en digi­ta­len Bril­len beson­ders ein­fach war. Selek­ti­ves Social Distancing, hieß das damals bei der Ein­füh­rung die­ser Funk­ti­on und den ver­güns­tig­ten Bril­len für alle.

Kam jemand einem ver­däch­ti­gen Sub­jekt doch zu lan­ge zu nahe oder führ­te gar eine län­ge­re Unter­hal­tung mit ihm, wür­de das sofort zu einer Ver­rin­ge­rung des eige­nen Gesund­heits­scores füh­ren. Und die­ser Gesund­heits­score, den das Regis­ter minüt­lich aktua­li­sier­te, ent­schied über Zugang zum öffent­li­chen Leben, die Beför­de­rung, die Stu­di­en­mög­lich­kei­ten und vie­les mehr.

Man wich K. also groß­räu­mig aus. Teils zum eige­nen Schutz aber haupt­säch­lich, um nicht nega­tiv aufzufallen.


Die­ses Roman­frag­ment ist die Fort­set­zung des im April 2020 erschie­nen Auf­takts 2024 – Kaf­ka trifft Orwell.

Eine Fort­set­zung, die ich gehofft hat­te nie schrei­ben zu müssen. 



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