Seit gestern stand K. unter Arrest. Gründe wurden keine genannt. Das wurden sie in Fällen wie dem seinen allerdings nie. Es war auch nicht nötig, die Gesundheitsbehörde hatte genügend Gründe, immer und gegen jeden. Zu wenig Bewegung, zu ungesunde Lebensmittel eingekauft, zu oft Fast Food, zu viel Kontakt mit den verdächtigen Subjekten und dann noch Alkohol oder Nikotin.
Die Überwachung war lückenlos und die Algorithmen zur Auswertung kannten kein Erbarmen. Alles im Namen der Volksgesundheit.
K. hatte die Nachricht seiner Verhaftung gestern auf seiner Gesundheits-App erhalten. Für einen Monat stand er nun unter Arrest. Solche Maßnahmen zur Eindämmung, wie es vieldeutig hieß, waren seit der großen Pandemie von zwei Jahren zur Routine geworden. Algorithmen bewerteten seither das Verhalten der Bürger von Jahr zu Jahr feinmaschiger und exekutieren die gesetzlichen Regeln bei zu vielen Abweichungen gnadenlos.
Kein einziger Polizist, kein einziger Staatsanwalt oder gar Richter musste sich damit beschäftigen. Der Befehl zum Arrest erscheint einfach auf der Gesundheit-App und tritt damit unverzüglich in Kraft. Irrtum ausgeschlossen, Widerspruch unmöglich.
Der Arrest war eigentlich keiner im vorpandemischen Sinne. Oberflächlich betrachtet jedenfalls nicht. K. durfte die Wohnung verlassen und sich in seinem Stadtviertel frei bewegen. Das war jedoch kein Akt der Gnade, sondern Teil der Strafe. So musste K. täglich das rege öffentliche Leben der breiten gehorsamen Masse ansehen, welches ihm selbst aber wegen seiner Verfehlungen während seines Arrests verwehrt bleiben musste.
K. wollte daher lieber in der Wohnung bleiben. Er wusste von seinem letzten Arrest im Sommer schon genau, was ihn draußen erwarten würde. Weit weg konnte er ohnehin nicht. In jedem öffentlichen Verkehrsmittel musste er mit seiner Gesundheits-App einchecken und weil er unter Arrest stand, würde ihm das nicht erlaubt sein.
Selbst wenn er sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad fortbewegen würde, er käme nicht weit. Die App würde an den Grenzen seines Stadtviertels sofort Alarm schlagen und die Dauer seines Arrests würde sich automatisch verdoppeln.
Am Ende der Pandemie war K. noch froh gewesen, über die Gesundheits-App seinen Immunitätsstaus nachweisen zu können und so wieder einen Teil der Freiheit zurückzubekommen. Damals gab es auch noch keine zentrale Datenbank dahinter, sondern nur die App. Nach und nach erst wurde aus dem Immunitätsnachweis auf dem eigenen Smartphone das zentrale Immunitätsregister und daraus das zentrale Gesundheitsregister und daraus schließlich angereichert mit vielen weiteren Datenquellen das, was heute nur noch Das Register hieß.
Niemand hätte dieses Maß an Digitalisierung, Big Data und AI einem Staatsapparat zugetraut, der noch während der großen Pandemie die Daten zu den Infektionen mit Faxgeräten zusammentrug und in Excellisten bereitstellte. K. hatte sich in diesem Punkt wie so viele getäuscht, genauer gesagt hatte er den Einfluss der willigen Helfer aus dem Silicon Valley unterschätzt. Durch die Pandemie waren die Regierungen zu stark an entsprechender Überwachungs- und Auswertungssoftware interessiert und gleichzeitig der Widerstand der Bevölkerung praktisch nicht vorhanden. Und an Geld für die „gute Sache“ mangelte es sowieso nie.
Auch die Gesundheits-App hatte schon lange nichts mehr mit Gesundheit zu tun. Sie war mittlerweile der Schlüssel zur Teilnahme am öffentlichen Leben. In jedem Verkehrsmittel, Geschäft, Zoo, Schwimmbad, etc. musste man mit der App einchecken. Die App war das Marionettenseil des Registers zu jedem Bürger. Bei jedem Einchecken schickte die App einen kleinen Prüfauftrag an das Register. Und das antwortete umgehend mit einem grünen Daumen nach oben oder einem roten nach unten.
War jemand unter Arrest wie eben derzeit K. so gab es nur wenige Orte, wo ihm das Register noch Zugang gewährte. Eigentlich waren das nur noch die allernötigsten Geschäfte des täglichen Lebens. Und das auch nur in seinem Stadtviertel.
Er hatte zwar keine Lust, machte sich aber trotzdem auf den Weg zum Supermarkt. Der Kühlschrank war leer bis auf ein paar Flaschen Bier, die aber seinem Gesundsheitsscore noch weiter geschadet hätten und das konnte er sich während des Arrests nicht erlauben. Es würde wieder ein Spießrutenlauf werden. Das kannte K. von seinem letzten Arrest.
Auf eine beklemmende und unheimliche Weise wichen ihm die Menschen auch dieses Mal wieder auf der Straße aus. Sie kannten ihn nicht und er kannte sie nicht, aber sie wichen ihm definitiv aus. Sie wechselten die Straßenseite oder die Richtung, quetschten sich an Hausmauern und in Eingänge oder drehten ihm den Rücken zu.
Äußerlich war er derselbe wie gestern. Der Umstand seines Arrests war ihm nicht anzusehen und doch wusste jeder Bescheid und vermied die Begegnung mit ihm.
Sobald ein verdächtiges oder gefährliches Subjekt wie K. in der Nähe war, warnte die App alle Betroffenen augenblicklich. Mit Augmented Reality konnte jeder die Umgebung nach verdächtigen Subjekt wie ihm absuchen und ihnen aus dem Weg gehen, was mit den neuen digitalen Brillen besonders einfach war. Selektives Social Distancing, hieß das damals bei der Einführung dieser Funktion und den vergünstigten Brillen für alle.
Kam jemand einem verdächtigen Subjekt doch zu lange zu nahe oder führte gar eine längere Unterhaltung mit ihm, würde das sofort zu einer Verringerung des eigenen Gesundheitsscores führen. Und dieser Gesundheitsscore, den das Register minütlich aktualisierte, entschied über Zugang zum öffentlichen Leben, die Beförderung, die Studienmöglichkeiten und vieles mehr.
Man wich K. also großräumig aus. Teils zum eigenen Schutz aber hauptsächlich, um nicht negativ aufzufallen.
Dieses Romanfragment ist die Fortsetzung des im April 2020 erschienen Auftakts 2024 – Kafka trifft Orwell.
Eine Fortsetzung, die ich gehofft hatte nie schreiben zu müssen.