Wie entsteht in einer Gruppe von Menschen, sei es ein Projektteam, eine Abteilung oder ein Unternehmen, ein Gefühl von Zugehörigkeit? Am Beispiel von IT-Dienstleistern war bereits die Rede von einem bewusst zu gestaltenden Gravitationszentrums. Ein gemeinsamer Kern, eine gemeinsame Vision basierend auf gemeinsamen Werten, kurzum: etwas, wozu sich die Mitarbeitern mit Stolz bekennen und sich zugehörig fühlen. Nun ist es eine Sache, einen solchen Kern zu proklamieren, aber eine ganz andere die Vision und Werte begreifbar und erlebbar zu machen. Leider passen die schönen Sonntagsreden oft so gar nicht zur alltäglichen Realität im Team oder Unternehmen. Die leeren Worte verhallen ohne Wirkung.
Wir kennen das aus der Kindheit und Jugend, aber kaum noch aus dem Arbeitsleben: Den Stolz gemeinsam etwas Großes geschaffen, überstanden oder erreicht zu haben. Gemeinsam durch dick und dünn gegangen zu sein. Eine gemeinsame Vision verwirklicht zu haben oder jedenfalls Seite an Seite dafür gekämpft zu haben. Das schafft Vertrauen und gemeinsame Werte, zu denen sich der einzelne stolz bekennt.
Genau so soll das bitte auch im Team, in der Abteilung oder im Unternehmen sein. Also beginnt man schön strukturiert bei der Vision und den gemeinsamen Werten. Und ist sich schnell einig. Jedenfalls auf abstrakter Ebene und als Idealvorstellung. Als Ergebnis steht dann irgendwo eine sterile Vision 2020, eingerahmt von hohlen Phrasen über gemeinsame Werte.
Mit viel Glück passt dieser Anspruch tatsächlich zur täglichen Erlebniswelt im Unternehmen oder im Team. Meist steht die Realität aber in krassem Widerspruch zu dem hehren Ideal. Respekt und Wertschätzung wird in den Werten gepredigt, der Mitarbeiter aber nur als Ressource behandelt mit dem Ziel der Maximierung der Auslastung. Eigenverantwortung und Selbstorganisation werden gefordert, aber durch Kontrollwahn effektiv verhindert. Kreativität und Neugier werden verlangt, aber kein Freiraum dafür eingeräumt.
Fazit
Visionen zu verkünden und gemeinsame Werte zu proklamieren ist das eine, beides mit Leben zu füllen das andere. Die Führungskraft, und dazu zähle ich ganz bewusst auch Projektmanager, muss dafür sorgen, dass die Erlebniswelt der Mitarbeiter nicht eine völlig andere Sprache spricht. Und zwar täglich. Durch das eigene Vorbild und authentische Führung. Gemeinsame, nutzenstiftende Erlebnisse tun dann ein Übriges, dürfen sich aber keinesfalls auf die jährliche Teambuilding-Maßnahme beschränken. Idealerweise ist die Arbeit im Team ein solches Erlebnis: durch gemeinsame Anstrengung täglich Nutzen stiften.
Vor vielen Jahrhunderten arbeiteten drei Maurer an den Grundmauern einer Kathedrale. Einige Steine mussten, damit sie perfekt in die Mauer passten, mit dem Hammer bearbeitet werden. Ein Passant kam vorbei und fragte die drei, was sie da tun.
„Das sehen Sie doch“, erwiderte der erste mürrisch. „Ich bearbeite einen Stein.“
Und der zweite Maurer, der das gleiche tat, sagte eifrig: „Ich errichte eine Mauer.“
Der dritte Maurer allerdings antwortete stolz und nachdenklich: „Ich baue eine Kathedrale“.
Foto: Das Artikelbild wurde von Recuerdos de Pandora unter dem Titel „Construcción de la Sagrada Familie (Barcelona, 1915)“ auf Flickr unter einer Creative Commons CC BY-SA 2.0 Lizenz veröffentlicht.
8 Kommentare
Hallo Marcus,
bevor ich Deinen treffenden Artikel las, kam mir dieser noch unter die Augen, der ähnliche Aussagen macht:
Entmenschlichte Unternehmen: Die Schizophrenie des modernen Managements, von Gudrun Happich
VG Martin
Hallo Martin, leider ist es genauso wie Du schreibst: schizophren und grotesk. Natürlich geht die Rechnung nicht auf, aber Lernen geht hier leider nur durch Schmerzen. Ich hoffe, dass der demographische Wandel zusammen mit der veränderten Haltung der Generation Y den Wandel bewirken kann, bin mir aber zunehmend unsicher.
Hallo Martin,
vielen Dank für den Link!
Diese Beschreibung könnte aus jedem Konzern, in den ich bisher gearbeitet habe, stammen. Ich habe mich immer gewundert, wieso ich als PM immer soviel Quatsch in cc: bekomme; letztendlich erklärt aber die Rechtfertigungsnot des Einzelnen jede dieser Mails, dieser Durchschläge, dieser „Ich-habe-Dich-ja-informiert“-Infos.
Mittlerweile sind wir schon so weit, daß ich von meinen Kollegen Mitschriften unserer informellen (!) Gespräche bekomme, damit auch alles dokumentiert und belegbar wird.
Traurig, oder?
Unfassbar traurig.
Allerdings.
Bei einem meiner früheren Arbeitgeber habe ich mal eine kleine persönliche Auswertung gemacht:
Von der Projektkorrespondenz gehörten ca. 75% in den Bereich Apologetik, also „Ich war’s nicht!“.
Noch Fragen?
Nein, keine Fragen mehr. Ich verstehe nun warum es Dein „früherer“ Arbeitgeber ist. So etwas löst bei mir auch Fluchtreaktionen aus.
Jetzt musste ich doch ein wenig in meiner Büchersammlung suchen, aber ich habe es dann doch gefunden.
Andreas Rother hat vor Jahren ein Buch geschrieben, das wohl als Satire durchgehen sollte: „Unternehmensphilosophie in Textbausteinen“. Der Leser sollte für sein Unternehmen ein bestimmtes Image heraussuchen und danach die entsprechende Broschüre mit Hilfe von Textbausteinen selbst zusammenstellen.
Vielleicht sollte man die Idee noch einmal aufgreifen und das Ganze der Bequemlichkeit halber in ein Softwareprogramm gießen. Dann kann ein Praktikant den Text zusammenklicken.
Ich sehe gerade, bei Amazon gibt es das Buch noch gebraucht zu kaufen, für 0,01€ (http://goo.gl/JkZQ0Y). Das Lesen lohnt sich. Und das Buch ist immer noch mehr wert als so manche Hochglanzbroschüre.
Ich dachte ja nicht, dass es ein solches Buch wirklich gibt. Ich hoffe inständig, dass es Satire ist, befürchte aber, dass nicht alle Unternehmen die Satire verstanden haben. Oder auf anderem Wege jedenfalls zu den gleichen inhaltsleeren Texten kamen. Danke jedenfalls für den Hinweis.