Vorleben und infizieren statt abholen und mitnehmen

Immer wie­der höre und lese ich, dass Men­schen in Ver­än­de­rungs­pro­zes­sen abge­holt und mit­ge­nom­men wer­den müs­sen. Ich hal­te das für über­grif­fig und pater­na­lis­tisch. Da sich Men­schen nicht gegen die Ver­än­de­rung selbst weh­ren, son­dern dage­gen, ver­än­dert zu wer­den, wie Peter Sen­ge bereits rich­tig fest­ge­stellt hat, führt das Abho­len und Mit­neh­men auto­ma­tisch zu pas­siv-aggres­si­vem Wider­stand. Damit die Ver­än­de­rung die Orga­ni­sa­ti­on gut durch­dringt, hilft eine ganz ande­re Stra­te­gie: Aus­ge­hend von eini­gen „Influen­cern“ infi­zie­ren sich die Men­schen gegen­sei­tig mit dem der Ver­än­de­rung zugrun­de­lie­gen­den neu­en Ver­hal­ten wie mit einem Virus.

Veränderung als Epidemie

Lean­dro Her­re­ro hat den Begriff des „Viral Chan­ge™“ geprägt und über sein Buch „Viral Chan­ge: The Alter­na­ti­ve to Slow, Pain­ful and Unsuc­cessful Manage­ment of Chan­ge in Orga­ni­sa­ti­ons“ (Ama­zon Affi­lia­te-Link) bekannt gemacht. Anstatt Ver­än­de­rung wie üblich mit Ver­än­de­rung­pro­gram­men von oben beschlos­sen in die Flä­che aus­zu­rol­len, über­trägt Her­re­ro vira­le Phä­no­me­ne in Netz­wer­ken und sozia­len Medi­en auf Ver­än­de­rungs­pro­zes­se in Organisationen.

Beha­viours endor­sed and spread by that small group of indi­vi­du­als within an orga­ni­sa­ti­on (‘acti­vists’) crea­te ‘social tip­ping points’ whe­re tho­se new beha­viours beco­me estab­lished as a norm. ‘Cri­ti­cal mas­ses’ of indi­vi­du­als adop­ting tho­se new beha­viours are crea­ted via imi­ta­ti­on and social copy­ing in simi­lar ways as trends or fashions are crea­ted in the macro-social are­na. It’s an infec­tion, not broadcasting

Lean­dro Her­re­ro, The 15 key Viral Chan­ge™ principles

Im Kern geht es bei Ver­än­de­rungs­pro­zes­sen immer um die Ver­än­de­rung von Ver­hal­ten, dar­um ist das auch das ers­te der 15 Schlüs­sel­prin­zi­pi­en des Viral Chan­ge™. Die Ver­hal­tens­än­de­rung ist für Her­re­ro der Schlüs­sel zur nach­hal­ti­gen Ver­än­de­rung, dar­um lau­ten sei­ne nächs­ten bei­den Prin­zi­pi­en: Aus neu­em Ver­hal­ten resul­tiert die Kul­tur (nicht anders her­um) und das Ver­hal­ten hält die Pro­zes­se auf­recht (nicht anders her­um). Eini­ge weni­ge Ver­hal­tens­wei­sen haben dabei über­pro­por­tio­na­le Wir­kung (vgl. Pare­to­prin­zip); dort muss der Hebel ange­setzt wer­den. Die Fra­ge ist also: Wie schafft man es, genau die­se wirk­sa­men neu­en Ver­hal­tens­wei­sen in der Orga­ni­sa­ti­on zu verbreiten?

A rela­tively small num­ber of indi­vi­du­als within any orga­ni­sa­ti­on have gre­at power in the crea­ti­on of chan­ge. This power is rela­ted to various fac­tors such as high con­nec­ti­vi­ty with others, high trust, or moral, non-hier­ar­chi­cal aut­ho­ri­ty (PS. It’s not just about ‘vol­un­teers’)

Lean­dro Her­re­ro, The 15 key Viral Chan­ge™ principles

Die Ant­wort ist nahe­lie­gend. Seit frü­hes­ter Kind­heit erler­nen wir Men­schen neu­es Ver­hal­ten durch Nach­ah­mung. Zuerst von unse­ren Eltern oder ande­ren Bezugs­per­so­nen, denen wir blind ver­trau­en (müs­sen), spä­ter dann von Freun­den, Vor­bil­dern und von Men­schen, die man neu­er­dings „Influen­cer“ nennt. Genau die­se Men­schen ohne for­ma­le Macht und Man­dat, aber mit hohem Ein­fluss und hoher Glaub­wür­dig­keit gibt es nicht nur auf Insta­gram oder Face­book, son­dern auch in jeder Orga­ni­sa­ti­on und sie spie­len eine zen­tra­le Rol­le in der Ver­än­de­rungs­ar­beit. Was sie über­zeugt vor­le­ben, wird nach­ge­ahmt und brei­tet sich aus. So infi­zie­ren sich nach und nach alle damit.

The role of the for­mal hier­ar­chy, manage­ment and lea­der­ship, is to sup­port tho­se small groups of high­ly influ­en­ti­al employees who ‘infect’ the orga­ni­sa­ti­on with the chan­ges they have endor­sed. It is the­r­e­fo­re a role lar­ge­ly back-staged or ‘invi­si­ble’

Lean­dro Her­re­ro, The 15 key Viral Chan­ge™ principles

Die Auf­ga­be von Füh­rungs­kräf­ten ist es, neben dem Erken­nen und dem For­mu­lie­ren des Ver­än­de­rungs­be­darfs, die­se ein­fluss­rei­chen Mit­ar­bei­ter zu fin­den und ihnen einen guten Rah­men und Unter­stüt­zung zu bie­ten, damit sie durch ihr Vor­bild ihre Kol­le­gen infi­zie­ren kön­nen. Die Rol­le von Füh­rungs­kräf­ten ist also kei­ne sehr akti­ve (es sei denn sie wer­den auch jen­seits und trotz ihrer for­ma­len Posi­ti­on als glaub­haf­te Auto­ri­tät gese­hen) und dar­um ist Viral Chan­ge™ auch kein top-down Chan­ge­pro­gramm, son­dern eine Bewe­gung geführt von Akti­vis­ten, die über eine ent­spre­chen­de Glaub­wür­dig­keit in der Orga­ni­sa­ti­on verfügen. 

Ein Beispiel: Lernen fördern in der Transformation

Die agi­le Trans­for­ma­ti­on habe ich immer als eine gemein­sa­me Lern­rei­se betrach­tet. Agi­li­tät braucht nicht nur ganz vie­le neue Ver­hal­tens­wei­sen, son­dern beginnt eigent­lich schon beim Men­schen­bild und damit bei tief in der Kul­tur ver­gra­be­nen Glau­bens­sät­zen. Damit die­se Lern­rei­se gemein­sam gut gelingt, ist es uner­läss­lich, dass Erfol­ge, Miss­erfol­ge oder ein­fach nur Erfah­run­gen auch bereit­wil­lig im größt­mög­li­chen Kreis geteilt wer­den. Ansons­ten fin­det Ler­nen nur inner­halb von mehr oder weni­ger gro­ßen Silos statt und ist dadurch zu lang­sam. Genau das steckt im Kern von Working Out Loud (WOL).

Ich selbst nut­ze seit 2010 intui­tiv die Prin­zi­pi­en von WOL mit mei­nem Blog und sozia­len Medi­en mit gro­ßem Erfolg. Inso­fern konn­te ich es 2015 in mei­nen ers­ten Wochen im Kon­zern nicht ver­ste­hen, war­um unser Enter­pri­se Social Net­work mehr einer Geis­ter­stadt als einem leb­haf­ten Bazar glich. Also änder­te ich das, durch mei­ne eige­nen Bei­trä­ge und Kom­men­ta­re und wur­de dadurch unbe­ab­sich­tigt zu einem Akti­vis­ten der Ver­net­zung (auf­grund der Art und Wei­se wie ich The­men ver­brei­te) und der Agi­li­tät (weil das mein Haupt­the­ma war und ist). Nach und nach wur­de es jeden­falls leb­haf­ter in den ein­zel­nen Grup­pen unse­res Enter­pri­se Social Network.

Als die agi­le Trans­for­ma­ti­on dann 2017 rich­tig Fahrt auf­nahm, woll­ten wir natür­lich auch das Ler­nen beschleu­ni­gen. Dazu luden wir alle Mit­ar­bei­ter ein, aktiv die The­men der Ver­än­de­rung zu gestal­ten. Das Ziel war ein offe­nes Netz­werk zu dem jeder bei­tra­gen konn­te statt eines geschlos­se­nen Chan­ge­teams, das den Rest dann mit Chan­ge­maß­nah­men beglückt. Bei­trä­ge der Mit­ar­bei­ter, die sich dar­an betei­lig­ten, wur­den natür­lich wie üblich in den for­ma­len Gre­mi­en vor­ge­stellt, aller­dings hat­ten wir dort eine neue Regel ein­ge­führt: Jeder nicht ver­trau­li­che Bei­trag (und kei­ner im Kon­text der Trans­for­ma­ti­on war ver­trau­lich) wird nach der Vor­stel­lung im Gre­mi­um auch im Enter­pri­se Social Net­work als Blog­post geteilt (wobei ich immer mei­ne Hil­fe anbot). 

Die Sicht­bar­keit die­ser Bei­trä­ge erhö­he und ver­stär­ke ich seit über zwei Jah­ren durch mei­ne Reich­wei­te im Enter­pri­se Social Net­work ganz bewusst und seit zwei Jah­ren durch einen wöchent­li­chen News­let­ter an inter­es­sier­te Mit­ar­bei­ter mit den High­lights der Woche. Nach und nach wur­de dadurch das bereit­wil­li­ge Tei­len von Erfah­run­gen im größt­mög­li­chen Kreis, eine für vie­le bis dahin unver­ständ­li­che („Hat der kei­ne rich­ti­ge Arbeit?“) und teil­wei­se beängs­ti­gen­de („Was wenn jemand das nicht gut fin­det?“) Ver­hal­tens­wei­se, zur selbst­ver­ständ­li­chen Prak­tik für ganz vie­le und ich freue mich an dem leben­di­gen Trei­ben auf dem Bazar und unse­ren Erkennt­nis­sen der gemein­sa­men Lernreise. 

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

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