Vom Mittelalter an war das Hofnarrentum fester Bestandteil des Hofstaates. Die Aufgabe eines Hofnarren war dabei nicht primär die Belustigung des Hofes, sondern die Provokation und Irritation. Seine Stellung außerhalb der am Hofe geltenden Normen erlaubte ihm „Narrenfreiheit“ und machte den Hofnarren so zu einer „Institution zulässiger Kritik“ (Wikipedia). Diese bewusst eingesetzte Provokation hat auch heute noch weit mehr als Unterhaltungswert. Gerade in Zeiten der Veränderungen brauchen Organisationen Hofnarren, die intelligent provozieren und irritieren. Dadurch laden sie ein zum Nachdenken, Umdenken und Andersdenken.
The greatest danger in times of turbulence is not the turbulence; it is to act with yesterday’s logic.
Peter F. Drucker
Der Hofnarr ist in den wenigsten Organisationen heute eine ähnlich klar ausgewiesene Rolle wie es seine historischen Vorbilder im Mittelalter bei Hofe waren. Vereinzelt gibt es mutige und weitsichtige Beispiele, wie zum Beispiel die Ernennung von Paul Birch zum „Corporate Jester“ bei British Airways 1994. Seine Aufgabe war es Autoritäten zu hinterfragen, Aufrichtigkeit zu fördern und Probleme auf kreative Weise anzugehen (Fastcompany). Das amerikanische Militär setzt ebenfalls systematisch sogenannte Red Teams als Profi-Hofnarren sozusagen. Das Marine Corps sieht die Aufgabe eines Red Teams beispielsweise darin, dem Befehlshaber die unabhängige Fähigkeit zum kritischen Hinterfragen und alternative Perspektiven zu bieten und dadurch vorherrschende Meinungen in Frage zu stellen, die aktuellen Taktiken, Techniken und Verfahren kritisch zu prüfen und dem Gruppendenken entgegenzuwirken, um damit die Effektivität der Organisation zu verbessern. („provide the Commander an independent capability that offers critical reviews and alternative perspectives that challenge prevailing notions, rigorously test current Tactics, Techniques and Procedures, and counter group think in order to enhance organizational effectiveness.“ (Wikipedia)
Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht George Bernard Shaw
Gleich und gleich gesellt sich gern, heißt ein bekanntes Sprichwort. Das gilt auch für Organisationen und führt zur Gleichförmigkeit des Denkens. Die üblichen Karrierepfade und die damit verbundenen Auswahlmechanismen fördern das zusätzlich: belohnt werden nicht Querdenker und Störenfriede, sondern Konformisten. Dieses Gruppendenken ist brandgefährlich, weil es einnebelt und blind macht für Perspektiven der Mitbewerber und Chancen völlig neuer Geschäftsmodelle. Steve Sassons hatte beispielsweise bei Kodak bereits 1975(!) die erste Digitalkamera erfunden und sie zusammen mit Robert Hills bis 1989 zur ersten digitalen Spiegelreflexkamera mit 1.2 Megapixel weiterentwickelt. Unter dem Eindruck des damals noch extrem erfolgreichen Geschäftsmodells von Kodak, nämlich dem Verkaufen von analogen Filmen, konnte und wollte dort aber niemand eine solche Kamera verkaufen. Eine fatale Fehlentscheidung, die mit zum Niedergang von Kodak beitrug.
Irgendjemand wird also immer die aktuelle Denkweise, das aktuelle Geschäftsmodell und die aktuelle Arbeitsweise der Organisation kritisch hinterfragen und andere und vielleicht bessere Alternativen entdecken. Die Frage ist nur, ob das innerhalb eigenen Organisation passiert und gefördert wird oder ob es außerhalb passiert und damit vielleicht zur Bedrohung der eigenen Existenz wird. Lieber ein paar Hofnarren und damit kontinuierlich kritisch-konstruktive – und wenn sie richtig gut sind auch lustige – Störungen als den nächsten Kodak-Moment: Think different!
13 Kommentare
Danke Markus für diesen Beitrag, er spricht mir aus dem Herzen! Und deswegen gibt es im Silicon Valley auch die verrücktesten Jobtitel wie Chief Evangelist etc.
Vielen Dank, Sylvia! Manchmal muss man es hier auch einfach machen und Hofnarr sein, Auftrag hin oder her. Der Zweck heiligt die Mittel. Es gibt ja mittlerweile mittels mächtiger sozialer Netzwerke viel Möglichkeit Gehör zu finden als inoffizieller Narr. Nur mit der 08/15-Karriere sieht es dann schlecht aus …
Mal wieder- richtig toll! Danke!!!
Interessant wäre es auch, wenn man die Perspektive des Artikels vom Hofnarren auf den Chef, seinen König bzw. Kaiser schwenkt…den Kaiser mit den neuen Kleidern…das ist nämlich heute meines Erachtens auch auf den Job der Hofnarren darauf hinzuweisen, dass die Kleider recht transparent wirken!
Vielen Dank! Interessante Ergänzung: Der Organisation und damit immer auch den Mächtigen darin den Spiegel vorzuhalten gehört definitiv zum Aufgabengebiet eines Hofnarren. Vielleicht schreibe ich dazu ja noch einen Artikel … eine Art Job-Description ;-)
Marcus, vielen Dank für Deinen Beitrag. Echt Super. Musste schmunzeln, da ich vor längerer Zeit dazu selber etwas geschrieben habe … http://blog-wagner-consulting.eu/der-narr/
Dir noch eine schöne Zeit, ob als (Hof)Narr oder wie auch immer…
Vielen Dank, Günther! Ich sehe, uns beschäftigten ähnliche Fragen.
Ja, darum sind wir ja auch vernetzt Marcus …;)
Die Herausforderung ist, dass die Majestäten der heutigen Zeit auch um die Rolle des Hofnarren wissen und diese schätzen.
Das ist heute tatsächlich nicht so einfach. Da ist man schnell bei Majestätsbeleidigung und auf dem Abstellgleis.
Als „Externer“ kann ich bewusster in die Rolle des Narren einsteigen und diese wird auch eher toleriert, ja teilweise sogar gesucht. Ich kann im geschützten Raum arbeiten und muss nicht um meine Karriere bangen, höchstens um den Folgeauftrag.
Stimmt. Würde mir aber mehr aufgeklärte Organisationen und Mächtige darin wünschen die eine solche Rolle intern für wichtig und sinnvoll halten und entsprechend hoch aufhängen (also im Organigramm … nicht im Innenhof)
Kann man Heutzutage noch Hofnarr oder so werden. Würde mich sehr interessieren. Ich glaube ich habe eine begabung dafür
Einen offiziellen Karrierepfad dafür gibt es nicht … am nächsten kommt meiner Meinung nach die Rolle des Scrum Masters
Guten Morgen Marcus,
bin heut auf deinen Artikel gestossen – hatte gestern ein leicht philosophisches Telefonat just zu diesem Thema und bezug zu Wirtschaft und Politik mit einem Freund. Ich denke, die Rolle täte vielen Organisationen gut. Kernfrage: wer lässt sich (gern) den Spiegel vorhalten oder sich seiner Nackigkeit bewusst machen. Leider ist der Zeitgeist eher egoman Falls Du dazu inzwischen eine Stellenbeschreibung erstellt hast – lass es mich wissen.
gruß michael