Viele reden vom digitalen Wandel oder der digitalen Transformation. Die einen sehen die zunehmende Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalen Technologien eher angstvoll und sind besorgt um ihre Daten und ihre Privatsphäre, die anderen sehen eher die Chancen und den Nutzen der zunehmenden Vernetzung. Was passiert da gerade eigentlich? Diese berechtigte Frage stellt die OTTO Gruppe im Rahmen einer Blogparade.
Manchmal hilft es einen oder zwei Schritte zurückzutreten und so einen besseren Überblick zu erhalten. Weder Computer und damit das Digitale schlechthin noch das Internet sind brandneue Phänomene. Den Personal-Computer gibt es schon seit den 1970er Jahren, das Internet wie wir es heute kennen auch schon seit 1989. Digitalisiert wird also schon eine ganze Weile. Zuerst Informationen in Form von Text und Bildern, dann Musik, Videos, der Handel und vieles mehr. Was hat sich also verändert, so dass jetzt vom digitalen Wandel die Rede ist?
Durch den Siegeszug des Smartphones ist das Internet zum ständigen Begleiter geworden. Dadurch begünstigt stieg die Vernetzung durch Social Media stark an. Wie Peter Kruse in seiner Rede 2010 vor dem Bundestag bereits feststellte, kommt es damit zu einer Machtverschiebung von Anbieter zum Nachfrager, also zu einem extrem starken Bürger, Kunden oder Mitarbeiter. Relativ neu ist also diese Digitalisierung der Beziehungen, nicht als Ersatz von echten Begegnungen, aber vorbereitend, begleitend und verstärkend.
Wir sind keine Zuschauer oder Empfänger oder Endverbraucher oder Konsumenten. Wir sind Menschen – und unser Einfluß entzieht sich eurem Zugriff. Kommt damit klar.
Cluetrain-Manifesto, 1999
Unternehmen sollten sich also zunächst fragen, wie sie heute in Beziehung zu ihren Kunden (und Mitarbeitern) treten wollen und welche Chancen und Geschäftsmodelle sich daraus ergeben könnten. „Märkte sind Gespräche. Die Märkte bestehen aus Menschen, nicht aus demographischen Segmenten. Gespräche zwischen Menschen klingen menschlich. Sie werden in einer menschlichen Stimme geführt.“ Das prophezeite das Cluetrain-Manifesto schon 1999. Im Kern der Digitalisierung geht es um Beziehung und Vernetzung und eben nicht darum das eigene Produkt oder Teile davon zu digitalisieren oder mit digitalen Diensten anzureichern und ansonsten alles beim Alten zu lassen.
Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess. Thorsten Dirks, CEO Telefonica Deutschland AG.
Da dieser digitale Wandel auf Beziehungen beruht, kommt den Mitarbeitern eine ganz neue Rolle als Repräsentant ihrer Organisation zu. Natürlich wird es die feinziselierte offizielle Unternehmenskommunikation auch weiterhin geben, aber durch die zunehmende Vernetzung der Menschen kann jeder Mitarbeiter einen Unterschied machen und eben nicht nur der CEO oder der Unternehmenssprecher. Es ist allerdings mehr als fraglich, wie etablierte Unternehmen diesen Wandel überleben oder gar gestalten wollen. Vielerorts wird unter Digitalisierung der Bürodreisprung aus Ausdrucken, Unterschreiben und Einscannen von Formularen verstanden und auch noch als Fortschritt begriffen. Die Mitarbeiter werden, wenn überhaupt, mit rückständigen Smartphones ausgestattet, deren Funktion sich im Wesentlichen auf E‑Mail und Kalender beschränkt – ohne Datentarif freilich, denn gearbeitet wird ohnehin nur auf dem Firmengelände. Und Zugriff auf Internet und Social-Media wird nur auf Antrag gewährt (Informationsschutz!). Dafür ist die Digitalisierung dann Chefsache in Form eines Chief Digital Officer. Der soll sich um dieses Internet kümmern. Alle anderen: Wegtreten und weitermachen!
2 Kommentare
Hallo Marcus,
leider mache ich die gleiche Erfahrung. Ich habe teilweise den Eindruck, dass einige denken: „Für die Digitaisierung sind andere Abteilungen zuständig, die irgendetwas machen, was die Kunden wahrscheinlich nicht brauchen. Digitalisierung ist ein Hype, der bald wieder vorbei ist.“
Ich erlebe Besprechungen, in denen ein Chef aus seinem Notizbuch vorliest und diverse an der Besprechung Teilnehmende versuchen dies in ihr Notizbuch einzutragen, um es dann Anderen wieder vorzulesen, die es dann wieder aufschreiben … usw.
Spannend ist, dass der Ursprung vieler dieser Informationen in digitaler Form vorlag, die aber ausgedruckt und dann mit einer Dokumentenkamera präsentiert wurden.
Oder: Bisher wurden Anträge, denen jemand zustimmen muss, von einer Sekretärin ausgedruckt, dem Chef in einer Mappe vorgelegt, von diesem unterschrieben, von der Sektretärin eingescannt und weitergeleitet – der von dir skizzierte Dreisprung. In der digitalen Form sieht das dann so aus: Ein PDF wird zum Verantwortlichen geschickt, der es öffnet, digital signiert, abspeichert und weiter leitet. Der Arbeitsaufwand für den Verantwortlichen ist deutlich gestiegen, der Aufwand der Sekretärin reduziert. Wenn jemand viele solcher Anträge unterschreiben muss, wir er an dieser Form der Digitalisierung keinen Spaß haben.
Spätestens jetzt sollte die Frage gestellt werden, ob dies ein „Scheißprozess“ ist, der gerade digitalisiert wird. Diese Frage wird evtl. gestellt, da für die Beantwortung ab andere zuständig sind, die von ihrem Mindset noch in Hierachie und Papier denken, wird sich vermutlich nichts ändern.
Die Digitalisierung gibt uns die Möglichkeit, in ganz anderer Form zusammen zu arbeiten. Diese Möglichkeiten zu nutzen verlangt aber, dass sich die Betroffenen intensiv mit der Thematik beschäftigen und neue Tools und Methoden lernen. Da die Arbeitsbelastung vieler Betroffener aber schon deutlich über 100% liegt, gibt es hierfür keinen Spielraum. Schlussendlich blockieren wir uns somit wohl selbst.
Sehe ich das zu pessimistisch? Hat jemand eine Idee, wie dieser Knoten gelöst werden könnte? Gibt es Erfahrungen?
Gruß
Kai
Lieber Kai, das siehst du völlig realistisch. Leider. Vielerorts wäre man um die digitale Signatur schon froh. Die defizitäre Zusammenarbeit ist das eine, die verpassten Chancen das andere. Unternehmen, die intern Digitalisierung 0.5 leben, werden sich schwer tun in den digital vernetzten Märkten in denen Gespräche zwischen Menschen den Unterschied machen. Die gesamte soziale Kontaktfläche zwischen den Mitarbeitern und der Welt im Sinne neuer Chancen auszunutzen wird die hohe Kunst sein.