Die Älteren unter uns erinnern sich bestimmt noch an den deutschen Humoristen Vicco von Bülow alias Loriot, dessen Lieblingsthema die gestörte menschliche Kommunikation war. In dieser grandiosen Szene im Leben eines älteren Ehepaars beispielsweise spitzt sich solches Kommunikationsversagen dramatisch zu. Und das alles nur, weil der Mann einfach nur scheinbar tatenlos herumsitzen will, die Frau das nicht verstehen kann und ihn zu mehr Tätigkeit animieren will.
In einer Zeit ohne Internet und lange vor der allgegenwärtigen Zerstreuung durch Smartphones und Social Media, war diese kurze Szene zwar überspitzt, aber nicht abwegig. Heute wäre sie so undenkbar, denn die Rolle der Frau in dieser Szene wurde längst durch das Smartphone übernommen. Einfach nur hier sitzen geht nicht mehr, denn Facebook und Co. verdienen nur Geld, wenn wir ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken. Deshalb motivieren sie uns fortwährend zu neuer Aktivität: lies mich, klick mich, wisch mich. Und das mit deutlich ausgefeilteren Methoden und effektiveren Taktiken als die etwas plumpen Appelle der Ehefrau in Loriots Szene.
Die Gehirnforschung hat in den letzten Jahren deutlich gezeigt, dass unser Gehirn keine Pausenfunktion kennt. Es arbeitet immer – oder ist tot. Es kennt allerdings zwei unterschiedliche Arbeitsmodi: Konzentrierte Aufmerksamkeit einerseits und das was im Deutschen Ruhezustandsnetzwerk (im Englischen Default Mode Network) genannt wird. Die deutsche Benennung ist allerdings irreführend, da sie Untätigkeit suggeriert. Tatsächlich aber ist das Gehirn in diesem Modus des Loslassens sehr produktiv. Lange Zeit war allerdings gar nicht klar, womit das Gehirn sich im Leerlauf beschäftigt und wozu wir Menschen dafür überhaupt so viel Energie einsetzen.
Der Psychologe Matthew D. Lieberman widmete sich mit seinem Team genau dieser Frage und fasst die überraschenden Ergebnisse in seinem Buch „Social: Why our brains are wired to connect“ (Amazon Affiliate-Link) zusammen. Die Hirnregionen des Ruhezustandsnetzwerks sind identisch mit den Regionen, die während Experimenten zu sozialer Wahrnehmung aktiv sind. Im Leerlauf denkt unser Gehirn also standardmäßig über unser Sozialleben nach.
Diese Erkenntnis scheint auf den ersten Blick wenig verwunderlich, da wir Menschen soziale Wesen sind und unser Wohlergehen und Überleben über lange Zeit von der Zugehörigkeit zur und der Stellung innerhalb unserer Gruppe abhing. Insofern ist es naheliegend, dass uns diese Fragen beschäftigen. Tatsächlich gelang es Lieberman aber nachzuweisen, dass die Kausalität umgekehrt ist: Nicht weil wir soziale Wesen sind, beschäftigen wir uns mit diesen Fragen, sondern weil unser Ruhezustandsnetzwerk instinktiv und reflexhaft sich damit beschäftigt, sind wir an der sozialen Welt interessiert. Einfach nur hier zu sitzen ist also nicht so wertlos, wie es der Ehefrau in Loriots Szene erscheinen mag.
Im Zen heißt es: „Unser Geist ist wie trübes Wasser, der Staub setzt sich von ganz alleine ab, wenn wir nur aufhören, ständig darin herum zu rühren.“ Motiviert durch Smartphones und die Apps der Aufmerksamkeitsindustrie rühren wir seit einigen Jahren aber immer heftiger von früh bis spät in unserem Geist herum. Ohne Leerlauf, wird das Ruhezustandsnetzwerk aber nicht aktiv. Und wenn man sich die wichtige Funktion dieses Netzwerks für unser Sozialleben vor Augen führt, dann liegt der Schluss nahe, dass Social Media nur scheinbar soziale Qualitäten fördert und die langfristige Wirkung eher eine asoziale und vereinsamende sein könnte.
Für diesen Zusammenhang liegen ebenfalls schon erste Forschungsergebnisse vor, wie Cal Newport in seinem Buch Digitaler Minimalismus (Amazon Affiliate-Link) schreibt: „Die Daten sprachen eine deutliche Sprache. Je mehr Zeit man damit verbringt, sich auf solchen Diensten zu ‚vernetzen‘, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, sich zu isolieren.“ Jedenfalls wenn es um die generelle Nutzung geht. Tatsächlich gibt es – gefördert von Facebook – auch andere Studien, die fokussiert auf bestimmte Verhaltensweisen, z.B. dem Verfolgen von Statusaktualisierungen von engen Freunden, zum gegenteiligen Ergebnis kommen.
Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.
Astrid Lindgren
Und das ist der springende Punkt: die Dienste der Aufmerksamkeitsindustrie locken mit dem unbestreitbaren Nutzen dieser bestimmten Verhaltensweisen und ziehen dann die arglosen Nutzer ganz bewusst immer weiter in ihren Bann. Wie Alice im Wunderland fallen sie immer tiefer hinein in den Kaninchenbau, wo sie sich in der absichtslosen Nutzung und dem ziellosen Blättern durch endlose Ströme mehr oder weniger belangloser Aktualisierungen gemischt mit lukrativer Werbung verlieren. So schlagen Facebook und Co. Kapital aus diesen für uns Menschen so wichtige Momenten, in denen man einst einfach nur irgendwo sitzen und vor sich hin schauen konnte – sofern es der Frau des Hauses genehm war.
3 Kommentare
Guter Artikel, der das widerspiegelt, was zum Glück immer öfter thematisiert wird: nicht das Datensammeln ist das Asoziale an Facebook, sondern die Konditionierung der Nutzer bis hin zu einem entleerten Leben und die Schadigung der Gesellschaft. Ich habe selber vor einem Dreivierteljahr mit FB aufgehört, weil ich damit nicht klarkam. Es war die richtige Entscheidung.
Vertiefende Literatur hier:
https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2018/reset/social-media-sucht-am-haken
https://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-kolumne-was-facebook-wirklich-ist-a-1202360.html
https://blog.gls.de/bildung/facebook-die-manipulationsmaschine/
Naja,
es ist nicht schwer „Schuldige“ zu finden, die das eigene, unerwünschte Verhalten „verursachen“.
Ist also der volle Kühlschrank dafür verantwortlich, dass wir mehr essen als wir wollen und sollen?
Facebook, Amazon und Co. befriedigen das irdische Bedürfnis vom immer mehr vom immer gleichen. Das ist das Gesetz der Materie, der größeren Anziehungskraft von mehr Masse.
Ein Mensch, dessen Bewusstsein sich vorrangig mit seinem spirituellen Aspekt identifiziert und nicht mehr mit dem materiellen hat übrigens keinerlei Probleme, sich den Konditionierungen der sozialen Netzwerke zu entziehen. Und so gilt hier – wie in jedem anderen Change Prozess – das Denken zu verändern und nicht die Probleme im außen zu bekämpfen. https://insiderooms.de/paradigmenwechsel-denken-oberhalb-der-einsteinschwelle
Richtig, die Ursache dieses suchtartigen Verhaltens liegt in uns selbst. Allerdings hat der Kühlschrank nichts davon, wenn ich mich überfresse, Facebook und Co. verdienen damit ihr Geld und verstärken die Reize noch bewusst.