Social-Media: Der moderne Spiegel Nerhegeb

Im ers­ten Band von Har­ry Pot­ter lernt Har­ry bei sei­nen nächt­li­chen Streif­zü­gen durch Hog­warts den Spie­gel Ner­he­geb ken­nen. Die­ser magi­sche Spie­gel zeigt dem Betrach­ter indi­vi­du­ell und ver­füh­re­risch rea­lis­tisch sei­ne geheims­ten Her­zens­wün­sche. Har­ry zeigt er bei­spiels­wei­se die lie­be­vol­le Fami­lie, die er als Wai­sen­kind bei gehäs­si­gen Stief­eltern nie ken­nen­ge­lernt hat­te und die er sich mehr als alles ande­re wünscht. Durch die zau­ber­haf­ten Bil­der, die sei­ne tiefs­te Sehn­sucht anspre­chen, gefes­selt, wird Har­ry kurz­zei­tig jeg­li­cher Moti­va­ti­on beraubt und ver­bringt Näch­te vor dem Spie­gel. Er zeigt deut­li­ches Sucht­ver­hal­ten, bis er vom Schul­lei­ter Dum­ble­do­re über die Funk­ti­on des Spie­gels auf­ge­klärt wird und Dum­ble­do­re den Spie­gel anschlie­ßend in die Kel­ler­ge­wöl­be ver­frach­tet, um dort den Stein der Wei­sen zu beschützen.

J.K. Row­ling hat damit 1997, also weit vor der Ära von Social-Media, tref­fend beschrie­ben, was algo­rith­misch kura­tier­te Emp­feh­lun­gen, die sich mitt­ler­wei­le auf allen Platt­for­men (Lin­ke­dIn, Twit­ter, Face­book, Tik­Tok, You­Tube, etc.) durch­ge­setzt haben, mit dem Nut­zer machen. Durch unse­re Inter­ak­tio­nen, die Klicks, die Likes, aber auch nur die Zeit die wir auf einem Bei­trag ver­wei­len, ler­nen die Algo­rith­men sehr schnell, von was wir uns ange­zo­gen füh­len. Und um unse­re Ver­weil­dau­er auf der Platt­form zu maxi­mie­ren, denn wir und unse­re Auf­merk­sam­keit sind letzt­lich das Pro­dukt, das die­se Platt­for­men an Wer­be­trei­ben­de ver­kau­fen, zei­gen uns die Algo­rith­men dann immer mehr von dem was uns gefällt. Jede Inter­ak­ti­on befeu­ert die Magie noch ein wenig mehr und führt bis­wei­len zu immer extre­me­ren Spiel­ar­ten unse­rer „Wün­sche“.

Mit Social-Media ist es aber tat­säch­lich noch ein wenig kom­pli­zier­ter als beim Spie­gel Ner­he­geb, weil die meis­ten von uns gleich­zei­tig Kon­su­men­ten und Pro­du­zen­ten auf die­sen Platt­for­men sind. Die­se unschö­nen Neben­wir­kun­gen von algo­rith­misch kura­tier­ten, auf das Ein­fan­gen der Auf­merk­sam­keit opti­mier­ten, Inhal­ten haben nicht nur beim Kon­su­men­ten, son­dern auch beim Pro­du­zen­ten Sucht­po­ten­ti­al. Im Extrem­fall führt die­se Ver­ein­nah­mung durch das Publi­kum (engl. „audi­ence cap­tu­re“) zu bedenk­li­chen Abwe­gen wie beim You­Tuber Nicho­las Per­ry, bes­ser bekannt als Niko­ca­do Avo­ca­do. Er war 2014 gestar­tet mit wenig beach­te­ten Vide­os, in denen er Gei­ge spiel­te und über die Vor­zü­ge vega­ner Ernäh­rung schwärm­te. Als er 2016 auf den aus Süd­ko­rea stam­men­den Trend von soge­nann­ten Mok-Bang Vide­os auf­sprang, also sich beim Ver­zeh­ren von Essen (nun nicht mehr vegan) film­te, wuchs sein Publi­kum sehr rasch. Die­se Dyna­mik führ­te Video für Video zu einer zuneh­men­den „Radi­ka­li­sie­rung“, so dass er immer grö­ße­re Men­gen Fast­food vor den Augen sei­ner Fans ver­zehr­te und schließ­lich erheb­li­che gesund­heit­li­che Pro­ble­me ent­wi­ckel­te (mehr dazu im lesens­wer­ten Arti­kel auf The Prism).

Oben: Nicho­las Per­ry bei sei­nen ers­ten Mok-Bang Vide­os. Unten: Das Ergeb­nis der Inter­ak­ti­on von Per­ry mit sei­nem Publi­kum: Niko­ca­do Avo­ca­do (Quel­le: The Prism)

Inso­fern kann ich von Glück reden, dass mir ein ähn­li­ches Schick­sal erspart blieb. Den­noch ging auch an mir die akti­ve Nut­zung von Social-Media als Blog­ger und Autor nicht spur­los vor­über. Wie hier, hier, und hier nach­zu­le­sen, wich mei­ne Eupho­rie in den Anfangs­zei­ten die­ses Blogs nach und nach der Erkennt­nis, dass ich mei­ne Arti­kel nicht mehr schrieb wegen der Freu­de am Schrei­ben oder um mei­ne Gedan­ken zu ord­nen, son­dern wegen der Likes, Ret­weets, Kom­men­ta­re, Fol­lower, Sei­ten­auf­ru­fen und ähn­li­chen über­aus eit­len Kenn­zah­len. Jede Bestä­ti­gung gab mir einen klei­nen Dopa­min-Kick und ent­frem­de­te mich ein wenig mehr vom Schrei­ben selbst.

Der Teu­fel der Moder­ne ist bil­li­ges Dopamin.

Naval Ravi­kant

Wir müs­sen die­sen moder­nen Spie­gel Ner­he­geb nicht in die Kel­ler­ge­wöl­be ver­ban­nen, soll­ten uns aber des Sucht­po­ten­ti­als sehr bewusst sein. Social Media hat vie­le guten Sei­ten, ich ler­ne dabei inter­es­san­te Men­schen ken­nen, ich füh­re gute Dis­kus­sio­nen und ich ler­ne viel Neu­es. Es darf nur nicht zum Selbst­zweck wer­den, son­dern muss als Werk­zeug ein­ge­setzt einem höhe­ren Zweck die­nen. Die­ser absichts­vol­le Umgang mit Tech­no­lo­gie im All­ge­mei­nen und Social Media im Beson­de­ren steht im Zen­trum von Cal New­ports Buch „Digi­tal Mini­ma­lism“, das ich abschlie­ßend noch­mals emp­feh­le zur Vertiefung.



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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

2 Kommentare

Die Ver­füh­rung ist ein­fach und billig.
Ein Click auf ein inter­es­san­tes Pre­view-Bild und schon kennt der Betrei­ber ein wenig mehr über dei­ne Per­sön­lich­keit. Egal ob Dash­cam-Crash-Vide­os, Koch­tipps oder das Tee­ny-Girl in auf­rei­zen­der Pose. Am Ende kennt die Platt­form dich selbst bes­ser als man sich selbst.
Das Pos­ten (egal wo!) ist immer eine Selbst­of­fen­ba­rung. Die Fra­ge ist nur: War­um? Nabel­schau oder Selbsttherapie?
Es ist viel zu ein­fach von dem „Schrei­ben für einen selbst“ in das haschen nach Likes und Views abzu­drif­ten. Die Ver­lo­ckung durch Aner­ken­nung ist viel zu ein­fach! Sie­he https://shashindo.de/instaoff/
Dazu kommt eine gewis­se Iso­la­ti­on, wenn man *nicht* auf Insta&Co. unter­wegs ist. Sie­he https://shashindo.de/dieses-andere-internet/
Die Platt­for­men haben uns ein­ge­nom­men und bestim­men nicht nur unse­re Kom­mu­ni­ka­ti­on son­dern auch unse­re Sehgewohnheiten.
Wer sich dage­gen stemmt, der wird schnell als kau­zi­ger Ere­mit wahrgenommen.
Es ist eine Fra­ge von Auf­klä­rung durch Medi­en und Staat (ja!) und Cha­rak­ter­bil­dung durch Familie&Freunde die einen nicht abdrif­ten lässt in den Stru­del der fal­schen Aner­ken­nun­gen und ober­fläch­li­chen Kommentare.
My point of view.

Lie­ber Oli, dan­ke für dei­nen Kom­men­tar und ins­be­son­de­re zu dei­nen Arti­keln. Da bin ich ja froh, dass ich in dei­nem RSS-Rea­der bin und du so mei­ne Arti­kel bekommst. Es ist inter­es­sant zu lesen, wie du zu ähn­li­chen Erkennt­nis­sen kommst und dann sehr kon­se­quent den Platt­for­men den Rücken kehrst. Ich beschrän­ke mich mitt­ler­wei­le auch wie­der auf das Schrei­ben hier und nut­ze ansons­ten nur LinkedIn.

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