Wir erleben eine Welt in „der vieles anders ist und immer schneller anders wird“, wie das der Zeitforscher Karl-Heinz Geißler so treffend formuliert hat. Die gefühlte oder reale Geschwindigkeit des Lebens steigt täglich getrieben von faszinierenden und teils beängstigenden technologischen Entwicklungen von Künstlicher Intelligenz bis zu Blockchain. Damit steigt der Veränderungs- und Innovationsdruck in Unternehmen enorm. Die Halbwertszeit von Produkten und Geschäftsmodellen wird immer kürzer. Im Klartext heißt das, dass Unternehmen sich immer wieder und in immer kürzeren Abständen neu erfinden müssen, um zu überleben. Neben der immer im Vordergrund stehenden Effizienz und Profitabilität im heutigen Geschäft muss es langfristig überlebensfähigen Unternehmen zur zweiten Natur werden, mutig neue Chancen auszuloten und ständig neue Geschäftsmodelle zu erproben. Gerade weil aber das dingende Geschäft von heute gerne das Wichtige, nämliche das Geschäft von morgen, verdrängt heißt die sechste und letzte These im Manifest für menschliche Führung: „Mutig das Neue erkunden mehr als effizient das Bekannte ausschöpfen.“
The balance of power is shifting toward consumers and away from companies… The right way to respond to this if you are a company is to put the vast majority of your energy, attention and dollars into building a great product or service and put a smaller amount into shouting about it, marketing it.
Jeff Bezos
Ein Unternehmen rund um ein Produkt oder eine Produktfamilie mit einem einzigen Geschäftsmodell aufzubauen und profitabel zu betreiben ist eine beachtliche Leistung. Die meisten Unternehmen überstehen diese Startup-Phase deshalb auch gar nicht. Und diejenigen denen es tatsächlich gelingt haben alle Hände voll zu tun, ihr Geschäft auszubauen und ihre Produkte zu verbessern und zu erweitern. Für manche läuft es dann so gut wie für Xerox mit Kopiergeräten, Kodak mit Filmen oder IBM mit Mainframes. Was in dieser Phase des Erfolgs passiert beschreibt Steve Jobs sehr gut: Während in der Anfangsphase das Unternehmen von den Produkten und der Leidenschaft für großartige Produkte geleitet und getrieben wird, übernimmt nach und nach Markting und Vertrieb das Ruder. Das ist einerseits sinnvoll, um die bestehenden Produkte und Geschäftsmodelle möglichst gut auszuschöpfen. Andererseits liegt darin auch der Keim des Niedergangs begründet, weil der Fokus von neuen und innovativen Produkten und Geschäftsmodellen auf den Profit des heutigen Geschäfts verschiebt.
Um dem entgegenzuwirken gründen Unternehmen Forschungslabors oder Forschungsabteilungen. Bei Xerox war das in dieser Phase des Erfolgs das bekannte Xerox Palo Alto Resarch Center (PARC). Die Liste der Erfindungen von Xerox PARC ist beeindruckend: „Hier wurde der erste Laserdrucker entwickelt, VLSI anhand neuer Entwurfsmethoden ermöglicht, Ethernet erfunden, eine eigene Serie von Lisp-Maschinen entworfen, mit SuperPaint die erste computergestützte grafische Bildbearbeitung entwickelt, die Programmiersprache Smalltalk als Vorbild vieler moderner objektorientierter Programmiersprachen entwickelt, das Konzept des Laptops entwickelt, die erste grafische Benutzeroberfläche entwickelt und im Xerox-Alto-Rechner erstmals eingesetzt, das WYSIWYG-Modell (What you see is what you get) als Grundprinzip für die GUI aufgestellt und umgesetzt und der Vorläufer von PostScript entwickelt.“ (Quelle: Wikipedia). Der einzige Schönheitsfehler dieser scheinbaren Erfolgsgeschichte: „Mit Ausnahme des Laserdruckers, der von Xerox erfolgreich in Form des Laserkopierers vermarktet wurde, hat es Xerox nicht geschafft, diese Erfindungen erfolgreich auf den Markt zu bringen.“ (Quelle: Wikipedia)
Für echte Beidhändigkeit im Sinne organisationaler Ambidextrie, also der Fähigkeit einerseits das Bestehende auszuschöpfen und gleichzeitig das Neue zu erkunden, reicht es also nicht aus, beides nebeneinander zu stellen. Die Kunst liegt in der möglichst nahtlosen Integration von Effizienz im Hier und Heute und Innovation für morgen. Xerox war sehr erfolgreich in ihrem damaligen Geschäftsmodell mit Kopierern und Xerox PARC war äußerst innovativ in ihrer Forschung. Das Problem lag im Transfer der Ideen in neue Produkte und Geschäftsmodelle. Xerox war so auf ihr bekanntes Geschäft mit Kopierern fixiert, dass viele der bahnbrechenden Innovationen von Xerox PARC einfach zu weit weg waren. Und umgekehrt war Xerox PARC fixiert auf Technologien und Innovationen und kümmerte sich kaum auf die Umsetzung in Geschäftsmodelle und die Integration in Xerox.
To accomplish great things we must dream as well as act.
Anatole France
Besser gelingt diese Beidhändigkeit beispielsweise Amazon. Zunächst baute Jeff Bezos ganz klassisch das Sortiment des Online-Buchhändler immer weiter zu einem Online-Kaufhaus aus. Dann aber kamen neue Geschäftsmodelle und Amazon wurde zur Plattform mit dem Marketplace, zum Logistikdienstleister indem es seine Logistikzentren und ‑services auch für andere Händler anbot, mit AWS zum führenden Cloud-Service-Provider indem es seine für die eigene Plattform ohnehin vorhandenen Cloud-Services auch Kunden anbot, zum Hardwarehersteller und vieles mehr. Ganz wesentlich für den langfristigen Erfolg von Amazon in einem extrem umkämpften und schnelllebigen Branche ist es trotz der Größe und trotz des operativen Kerngeschäfts immer auch wie ein Startup zu denken und zu handeln und ständig Experimente mit neuen Geschäftsmodelle und Services zu wagen, bei denen teilweise erhebliche Investitionen auf dem Spiel stehen. Die richtige Balance und die nahtlose Integration von einerseits Optimierung des bestehenden Geschäftsmodells und andererseits Erfinden von neuen Geschäftsmodellen ist eine sicherlich nicht einfache aber entscheidende Führungsaufgabe in einer VUCA-Welt. Darum heißt die sechste und letzte These im Manifest für menschliche Führung: „Mutig das Neue erkunden mehr als effizient das Bekannte ausschöpfen.“
4 Kommentare
Guten Tag Herr Raitner,
generell finde ich Ihre Artikel sehr interessant und lese diese immer mit großer Freude und Begeisterung. Allerdings ist mir aufgefallen, dass diese einen sehr einseitigen Einschlag erhalten haben, seitdem Sie Ihr „Manifest für menschliche Führung“ veröffentlicht haben. Oftmals macht es nicht mal einen Sinn wenn Sie darauf referenzieren.
Der erste Abschnitt beschreibt doch nichts weiter als einen Change-Prozess, wie Ihn schon Kotter oder Lewin beschrieben und hervorgehoben haben.
Eigenwerbung mag ja sicherlich hilfreich sein, aber leider leidet die Qualität und vor allem die Glaubwürdigkeit Ihrer Texte darunter, wenn Sie das Manifest zu oft in den Vordergrund schieben. Dies gilt nur als Anregung. Ich freue mich weiterhin auf neue Einträge von Ihnen.
MfG – MB
Danke für das Feedback. Ziel der Artikel die auf das Manifest referenzieren, war es für diese sechs Thesen zu erläutern, was ich darunter verstehe und warum ich glaube, dass es heute wichtig ist. Dadurch haben die letzten Artikel einen starken Bezug zum Manifest für menschliche Führung. Das ist mit diesem Artikel aber auch erledigt und Sie dürfen sich wieder auf andere Themen freuen. Mir ging es nicht um Werbung und schon gar nicht um Eigenwerbung, sondern um Erläuterung und Vertiefung. Ihr Kommentar scheint sich zwar generell auf die Artikel zu beziehen, aber ich verstehe nicht ganz wie sie aus dem ersten Abschnitt einen Bezug zu einem Change-Prozess sehen (jedenfalls nicht in diesem Artikel).
Die Beidhändigkeit ist ein schönes Bild für eine gelunge Integration von neuen Produkten und Services in das bestehende Geschäft. Für mich bedeutet diese Beidhändigkeit auch, Altes wertschätzend sterben zu lassen, um für Neues Akzeptanz, Neugier und Ressourcen zu bekommen. Mit einer Erneuerungsstrategie kann sicher die Änderungsbereitschaft der Organisation erhöht werden.
Danke für diese Ergänzung. Gerade neulich habe ich gelernt, dass es für dieses „wertschätzend Sterben lassen“ auch einen Begriff gibt: Exnovation. Passiert leider viel zu selten und führt dann zu einer Verzettelung im großen Stil. Darum halte ich Fokus für eine der wesentlichen Führungsaufgaben heute. Und Fokus heißt eben, Nein zu sagen.