Das Virus geht uns allen nahe. Sei es aus Angst um die Gesundheit, sei es aus Angst um die Gesellschaft und die Demokratie oder wegen beidem. Jeder hat eine Meinung dazu und meint diese auch in den sozialen Medien teilen und verteidigen zu müssen. Aus den 80 Millionen leidenschaftlichen Fußballtrainern wurden innerhalb von wenigen Wochen 80 Millionen leidenschaftliche Virologen und Epidemiologen. Nie war mehr Empörung – nie mehr Verbitterung.
Die Empörungsmaschine
Dieser Effekt ist keine neue Erkenntnis. Soziale Medien tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei, sie bringen Menschen gegeneinander auf und machen Menschen zu Arschlöchern, wie Jaron Larnier das schon 2018 in seinem Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ (Amazon Affiliate-Link) feststellte. Neu ist, dass sich die Diskussion seit einem Jahr nun bei diesem einen und für alle sehr emotionalen Thema der Corona-Pandemie und dem angemessenen Umgang damit verdichtet. Statt vieler kleiner Scharmützel und kurzen Empörungswellen zu verschiedenen Themen artet die Diskussion zunehmend in einen dauerhaften Stellungskrieg entlang verhärteter Fronten aus.
Durch diese thematische Verdichtung treten die Mechanismen, die Jaron Larnier berechtigterweise anprangert viel deutlicher hervor. Empörung ist gut für das Geschäft von Facebook, Twitter und zunehmend auch LinkedIn (das Larnier 2018 in seinem Buch noch als Ausnahme beschrieb, die es aber schon längst nicht mehr ist). Soziale Medien leben von der Diskussion und Interaktion und je kontroverser das Thema und je schärfer der Kommentar, desto mehr Leben ist in der Bude. Und genau darauf kommt es an. Schließlich sind die Nutzer dieser Plattformen nicht die Kunden, sondern das Produkt. Es geht einzig darum, das Verhalten der Nutzer zu erfassen und zu analysieren und dieses dann an Werbekunden zu verkaufen.
Um die Interaktion zu fördern und die Diskussion weiter zu befeuern, arbeiten diese Plattformen mit perfiden technologischen und psychologischen Tricks. Hitzige und teils unfaire Diskussionen gab es schon seit Bestehen des Internets, insbesondere in den unzähligen Foren des unüberschaubaren Usenet. Damals gab es aber noch keine von Algorithmen individuell zusammengestellte und zugeschnittene Newsfeeds. Die Erregung blieb viel lokaler und wurde nicht von einem zentralen Betreiber der Plattform (den es beim Usenet als verteiltem System auch nicht geben konnte) bewusst ausgenutzt, um möglichst viele möglichst intensiv in Diskussionen zu verstricken, so dass die auf der Plattform verbrachte Zeit maximiert wird.
Die Feedbackschleife sozialer Anerkennung
Eine ganz entscheidende Rolle dabei spielt das, was Facebooks erster Präsident Sean Parker die „Feedbackschleife der sozialen Anerkennung“ nennt. Likes und Kommentare fühlen sich gut an. Noch besser aber fühlen sie sich paradoxerweise an, wenn sie sich zufällig ereignen, man also nie weiß, was der nächste Aufruf von Facebook, Twitter oder LinkedIn oder die nächste Nachricht auf dem Smartphone an Überraschung bereithält. Dieser Effekt, dass zufällige Belohnungen weitaus stärkere positive Reaktionen im Gehirn auslösen und dadurch süchtig machen ist gut belegt bei Menschen und Tieren (z. B. in diesem klassischen Experiment aus den 1970er-Jahren mit Tauben).
Durch Auswertung unseres Verhaltens erhält jeder Nutzer einen auf seine Interessen und Vorlieben maßgeschneiderten Newsfeed, wobei auch wieder dieser Effekt der zufälligen Belohnung ausgenutzt wird. Durch diese bewusste Auswahl von Themen wird es wahrscheinlicher, dass der Nutzer irgendwie interagiert: hier ein Like, dort einen Kommentar und dann natürlich die eigene Meinung zu den Ereignissen, um im Wettrennen um die digitale Sichtbarkeit und Follower nicht zurückzufallen. Die meisten dieser Interaktion tragen das Potenzial zu weiterem zufälligem sozialem Feedback durch Likes und Kommentare anderer Nutzer in sich, was es wahrscheinlicher macht, dass Nutzer immer wieder zurückkommen oder sich gar nicht erst losreißen können. Und genau darum geht es. Das erklärte Ziel ist es, dass Nutzer möglichst viel Zeit auf der Plattform verbringen.
Der maßgeschneiderte Newsfeed verleitet Nutzer also zu Interaktionen, die ihrerseits dann Interaktionen anderer auslösen. Dieses soziale Feedback erfolgt zufällig und trägt maßgeblich und nachweislich zum hohen Suchtpotenzial sozialer Medien bei. Mit jeder Interaktion erhält der Algorithmus mehr Information und trifft unseren Geschmack immer besser, sodass wir immer mehr interagieren. Ein Teufelskreis, der massiv verstärkt wird durch Smartphones, mit denen die letzten maßgeschneiderten News und das zufällige soziale Feedback unserer Interaktionen uns auf Schritt und Tritt begleiten, um auch noch die letzten Momente unserer Aufmerksamkeit zu kapern.
Die begehrten neuen Technologien, die sich während der letzten rund zehn Jahre entwickelt haben, sind besonders gut dazu geeignet, Verhaltenssüchte auszulösen, und treiben Menschen dazu, sie viel mehr zu verwenden, als ihnen nützlich oder gesund erscheint. … Übermäßige Nutzung ist in diesem Zusammenhang nicht die Folge einer Charakterschwäche, sondern vielmehr die Umsetzung eines überaus profitablen Businessplans: Wir haben uns nicht für das digitale Leben angemeldet, das wir jetzt führen.
Cal Newport
Digitaler Minimalismus: Absichtsvolle Nutzung von Technologie
In seinem Buch Digital Minimalismus (Amazon Affiliate-Link) propagiert Cal Newport weniger die Enthaltung als den absichtsvollen Umgang mit Technologien. Für einen Zeitraum von 30 Tagen verzichtet man auf optionale Technologien und nutzt diese Zeit, um sich anderen Aktivitäten und Verhaltensweisen zu widmen. Mit der Klarheit dieser 30 Tage Abstinenz bestimmt man dann für jede Technologie, in welcher Weise sie das Leben bereichert, ob sie dafür die beste Technologie ist und wenn ja, wie sie dafür optimal eingesetzt werden kann.
Während meiner Elternzeit im Sommer habe ich dieses Experiment durchgeführt und mich der Familie und nicht dem Zählen von Likes gewidmet. Seither sind alle Social Media Apps auf meinem iPhone deinstalliert und ich nutze Twitter und LinkedIn nur noch am Laptop zu festen Zeiten abends, wenn ich auch meine E‑Mails beantworte. Selten scrolle ich überhaupt noch durch meinen Newsfeed auf diesen Plattformen, bei Twitter habe ich ihn beispielsweise komplett in Tweetdeck ausgeblendet und konzentriere mich auf die Interaktion mit Lesern meiner Artikel.
Die Verbreitung meiner Artikel und der Interaktion mit Lesern war aber nur ein Aspekt meiner Nutzung von sozialen Medien. Ein weiterer Nutzen, den ich insbesondere an Twitter anfangs sehr schätzte, war die Information über aktuelle Ereignisse und die Meinungen dazu aus verschiedenen Perspektiven. In den letzten zehn Jahren hat sich Twitter auch in eine Werbeplattform entwickelt und unterliegt damit auch den Mechanismen, die Jaron Larnier anprangert. Maß und Mitte wird tendenziell verdrängt durch immer heftigere Empörung entlang der radikalen Positionen des Meinungsspektrums. Menschen wie Donald Trump kommt das vielleicht entgegen, mich stößt es aber ab.
Das Propaganda-Modell
Bleiben also doch die klassischen öffentlichen Medien und insbesondere die überregionalen Tageszeitungen als Quelle der Information und der umfassenden Meinungsbildung. Einerseits ja, weil langsamer, sorgfältiger und ausgewogener. Während soziale Medien zur Aufschaukelung der Empörung an den Extrempositionen der Diskussion tendieren, bleiben klassische Medien idealerweise in der Mitte und schaffen einen Ausgleich zwischen verschiedenen Positionen und zeichnen ein möglichst unverzerrtes Bild der Wahrheit. Theoretisch jedenfalls.
Die Massenmedien wirken als System zur Übermittlung von Botschaften und Symbolen an die breite Bevölkerung. Ihre Aufgabe ist es, die Menschen zu unterhalten, zu informieren und ihnen die Werte, Überzeugungen und Verhaltensregeln beizubringen, nach denen sie sich in die gesellschaftlichen Strukturen einfügen sollen. In einer Welt des konzentrierten Reichtums und der starken Interessenkonflikte zwischen den Klassen erfordert die Erfüllung dieser Rolle eine systematische Propaganda.
The mass media serve as a system for communicating messages and symbols to the general populace. It is their function to amuse, entertain, inform, and to inculcate individuals with the values, beliefs, and codes of behavior that will integrate them into the institutional structures of the larger society. In a world of concentrated wealth and major conflicts of class interest, to fulfil this role requires systematic propaganda.
Edward S. Herman, Noam Chomsky
Warum es praktisch doch nicht so einfach und idealistisch ist, beschreiben Edward S. Herman und Noam Chomsky bereits 1988 in ihrem sehr empfehlenswerten und sehr nachdenklich stimmenden Buch „Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media“ (Amazon Affiliate-Link). Die öffentlichen Medien werden in demokratischen Staaten zwar als unabhängige vierte Gewalt (neben Legislative, Exekutive und Judikative) gesehen und geschätzt, unterliegen aber als Wirtschaftsunternehmen anderen und subtileren Zwängen als Staatsmedien in autokratischen Staaten. Im Kern behaupten und belegen Herman und Chomsky, dass diese Zwänge dazu führen, dass die öffentlichen Medien einem Propaganda-Modell folgen, das die Berichterstattung massiv zugunsten der Interessen der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Eliten verzerrt.
Herman und Chomsky definieren ihr Propaganda-Modell in Form von verschiedenen Filtern, durch die Informationen gefiltert werden, bevor sie es als Neuigkeiten in die Medien schaffen. Als Wirtschaftsunternehmen sind die Medien beispielsweise ihren Eigentümern verpflichtet und werden daher einerseits nicht gegen deren Interessen berichten. Andererseits müssen sie Gewinn erwirtschaften durch Verkäufe und zu einem ganz wesentlichen Teil durch Werbung. Wenn auch nicht so schlimm wie in den sozialen Medien, greifen hier doch dieselben Mechanismen, dass die Leser nicht die Kunden, sondern ihre Aufmerksamkeit das Produkt ist. Entsprechend verzerrt sich die Themenauswahl und die Art der Berichterstattung zugunsten der Interessen der Werbekunden.
Ein weiterer sehr wichtiger Filter sind die Quellen der Information. Öffentliche Medien sind auf einen konstanten Fluss von berichtenswerten und als zuverlässig angesehenen Informationen angewiesen. Genau das bieten Pressemitteilungen von Regierung und Wirtschaft in Hülle und Fülle und können dadurch schon an der Quelle die Agenda maßgeblich bestimmen. Etwas subtiler, aber ähnlich gelagert, ist die Rolle von Experten und Denkfabriken. Medien greifen gerne auf die scheinbar unabhängige Expertise zurück und genau deshalb unterstützen Wirtschaft und Politik diese Denkfabriken ganz massiv.
Die Filter des Propaganda-Modells von Herman und Chomsky führen also dazu, dass öffentlichen Medien nicht so unabhängig sind, wie sie scheinen, sondern tendenziell die Interessen der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Eliten vertreten. Wenn es dennoch kritische Berichterstattung gibt, geht es in der Regel um widerstreitende Interessen zwischen zwei Gruppen dieser Eliten und nie um die Unterstützung der Interessen von weitestgehend machtlosen nicht-elitären Gruppen gegen die herrschenden Eliten.
Dieser Effekt zeigt sich beispielsweise an der fehlenden oder einseitigen Diskussion um die verheerenden Zustände in Flüchtlingslagern und der Flüchtlingskrise insgesamt (hier ließen sich ganz einfach sehr viele Leben retten, wenn es denn wirklich bedingungslos auf jedes ankäme) oder in Bezug auf die drohende Klimakrise (auch ein generelles Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen würde so manches Leben retten). Auch beim Umgang mit der Corona-Pandemie und der Effektivität und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zur Eindämmung ist dieser Effekt leider zu beobachten.
Genau in Fragen dieser Tragweite braucht eine Demokratie aber viel kritischen Diskurs. Wenn dieser in der öffentlichen Wahrnehmung fehlt, stärkt das nur die Rattenfänger mit ihren Verschwörungstheorien und befeuert den empörten Lagerkampf in sozialen Medien. Auch das ist derzeit leider gut zu beobachten.