Das menschliche Leben besteht aus Entscheidungen. Wir sind die Summe unserer Entscheidungen, stellte Søren Kierkegaard treffend fest. Eigentlich wäre es also eine gute Nachricht, dass wir heute mehr Optionen haben als je zuvor. Im Kleinen bei der Wahl des Fernsehprogramms (wir hatten damals ja nichts, wobei wir tatsächlich noch zwei österreichische Sender zusätzlich hatten, also durchaus privilegiert waren) und im Großen mit der Wahl der Ausbildung und des Arbeitgebers. Der kluge Umgang mit diesem Überfluss an Möglichkeiten ist allerdings schwieriger als es getrübt durch die Freude über die riesige Auswahl auf den ersten Blick erscheinen mag.
Die Mär vom homo oeconomicus
Lange Zeit dachten Wirtschaftswissenschaftler, dass der Mensch als vernunftbegabtes Wesen auch im Wesentlichen rational verhält. Dieser homo oeconomicus erkennt und bewertet rational die vorhandenen Möglichkeiten und wählt dann die mit dem größten Nutzen aus. Soweit das gängige Modell des Menschen als Nutzenmaximierers. Durch die Arbeiten des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman wissen wir allerdings, dass dieses Modell zu eindimensional ist und menschliche Denkprozesse nicht ausreichend abbildet.
Explanations exist; they have existed for all time; there is always a well-known solution to every human problem — neat, plausible, and wrong.
H.L. Mencken
Menschen sind keine rationalen Entscheidungsmaschinen, sondern mit zwei sehr unterschiedlichen Denksystemen ausgestattet, die uns in verschiedenen Situationen gute Dienste erweisen. System 1 entscheidet schnell und intuitiv, während System 2 gründlich abwägt und rational entscheidet. Im Falle eines plötzlichen Gebrülls rettete System 1 unsere Vorfahren in der Regel vor dem Säbelzahntiger. System 2 hingegen repräsentiert unser rationales Denken und damit einen Großteil dessen, was den homo sapiens als vernunftbegabtes denkendes Wesen ausmacht.
Solange sich System 1 auf Säbelzahntiger und andere Notfälle konzentriert ist das auch gut so. Leider ist das in der modernen Welt nicht der Fall, allein schon mangels Säbelzahntigern, und genau davon handelt die Forschung von Daniel Kahneman, die er in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ (Amazon Affiliate-Link) zusammengefasst hat. Durch eine Kombination aus Trägheit von System 2 und Selbstüberschätzung von System 1 kommt es häufiger als uns lieb ist zu Situationen, in denen wir intuitiv eine schnelle, aber objektiv falsche Entscheidung treffen.
Beispiel gefällig? Ein Schläger mit Ball kostet 1,10 €. Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?
Willkommen im Club, wenn dein erster Impuls 0,10 € war. Das ist falsch. Richtig ist tatsächlich 0,05 €.
Für den ersten Impuls ist System 1 verantwortlich. Weil die Aufgabe so trügerisch einfach aussieht, fühlen wir uns kompetent, sie mit diesem intuitiven System zu lösen ohne das System 2 zu bemühen. Grundsätzlich ist das eine vernünftige und effiziente Haltung, denn die Denkprozesse im System 2 kosten mehr Energie als die schnelle Entscheidung im System 1.
In seiner langjährigen Forschung, für die er schließlich 2002 den Nobelpreis verliehen bekam, identifizierte Kahneman verschiedene Heuristiken, also Abkürzungen des menschlichen Gehirns, die unbewusst zu falschen Entscheidungen führen. Ein gängiges Beispiel ist die Substitution. Statt die eigentliche schwierige Frage zu entscheiden, ersetzen wir sie durch eine viel leichtere. Laptops werden dann gekauft, weil sie hübsch aussehen und Autos, weil die Farbe schön ist. Anstatt also für eine solche die Entscheidung System 2 mit einer umfassenden Recherche und Analyse zu bemühen, kürzen wir die Entscheidung ab, indem wir einfach so tun, also würde die Frage nicht lauten „Welche Gerät bringt objektiv den besten Nutzen für uns?“ sondern „Welches Gerät gefällt uns am besten?“.
Ein anderes gut untersuchtes Beispiel für eine solche Abkürzung ist die Verfügbarkeitsheuristik, die dazu führt, dass wir Eintrittswahrscheinlichkeiten von solchen Ereignissen überschätzen, die in unserem Gedächtnis leicht verfügbar sind. Das mediale Dauerfeuer mit Bildern von sich stapelnden Särgen in überfüllten Krematorien und Berichten über Triage auf Intensivstationen führt dazu, dass wir die COVID-19 für deutlich gefährlicher halten als das Bier und die Chips vorm Fernseher nach dem Schweinebraten beim Abendessen. Tatsächlich ist es aber deutlich wahrscheinlicher an Herz-Kreislauferkrankungen zu sterben, worauf in Deutschland mehr als ein Drittel der Todesfälle entfallen und dieses Risiko ließe sich durch gesündere Ernährung und mehr Bewegung verhindern.
A reliable way to make people believe in falsehoods is frequent repetition, because familiarity is not easily distinguished from truth. Authoritarian institutions and marketers have always known this fact.
Daniel Kahneman
Eine vorschnelle Entscheidung führt also leicht zu Fehlern, die wir eventuell bereuen. Wenn wir andererseits zu viel und zu lange mit System 2 die Optionen abwägen, werden wir zwar eine objektiv bessere Entscheidung fällen, die uns paradoxerweise aber nicht zufriedener macht, wie die Forschung des Psychologen Barry Schwartz eindrücklich zeigt.
Gut genug reicht vollkommen!
Diese Fülle an Möglichkeiten des modernen Lebens sollte uns eigentlich zufriedener machen als vergangene Generationen, die weit weniger Möglichkeiten hatten. Eigentlich. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. In seinem lesenswerten Buch „Anleitung zur Unzufriedenheit: Warum weniger glücklicher macht“ (Amazon Affiliate-Link) beschreibt der Psychologe Barry Schwartz dieses Phänomen als „Paradox of Choice“. Mehr ist nicht automatisch besser.
The fact that some choice is good doesn’t necessarily mean that more choice is better.
Barry Schwartz
Je mehr Möglichkeiten wir haben, desto mehr plagt uns die Qual der Wahl. Auf den ersten Blick scheinen mehr Möglichkeiten Voraussetzung für eine bessere Wahl zu sein, aber nur wenn wir sie alle kennen und einschätzen können. Und genau da beginnt in unserer Welt des Überflusses das Problem und verleitet zur beinahe endlosen Suche nach der besten Alternative. Wir sind kognitiv nicht ausgerüstet für diesen Überfluss, weil es über die weitaus meiste Zeit der Menschheitsgeschichte immer viel weniger Optionen gab.
Hat man sich dann doch aus dieser paralysierenden Fülle der Möglichkeiten eine passende ausgesucht, ist diese Entscheidung immer auch die Entscheidung gegen alles andere. Wenn ich mich, wie jüngst geschehen, nach einem neuen Arbeitgeber (oder noch allgemeiner und damit schwieriger nach der besten Möglichkeit, den Lebensunterhalt unserer Familie zu verdienen) umschaue, dann ist es natürlich einerseits gut, eine Wahl zwischen verschiedenen sehr guten Optionen zu haben. Andererseits sagt jede Entscheidung immer auch Nein zu ganz vielen attraktiven Möglichkeiten und das schmerzt gewaltig. Insbesondere, weil ja niemand wissen kann, ob nicht eine der anderen Optionen besser gewesen wäre. Die einzige Möglichkeit das zu erkunden, bestünde schließlich darin, es auszuprobieren.
Das Bessere ist der Feind des Guten.
Voltaire
Je mehr Möglichkeiten, desto höher also die Chance, eine falsche Entscheidung zu treffen. Wobei falsch gar nicht objektiv beurteilt werden kann, sondern davon abhängt, wie ich mir die anderen Optionen vorstelle. Das Ausschlagen von Alternativen hat also auch seinen Preis. Diese sogenannten Opportunitätskosten steigen offensichtlich, je mehr Möglichkeiten auf dem Tisch liegen und führen am Ende dazu, dass allein das Vorhandensein anderer Optionen uns unzufriedener mit der getroffenen Wahl macht.
Als möglichen Ausweg aus diesem Dilemma schlägt Barry Schwartz vor, der Strategie eines „Satisfier“ zu folgen. Im Gegensatz zu einem „Maximizer“, dessen Anspruch es ist, das absolute Optimum zu finden, sucht ein Satifsfier nur so lange, bis eine Möglichkeit gefunden ist, die gut genug ist. Satisfier haben also für anstehende Entscheidung bewusst oder unbewusst festgelegt, was gut genug bedeutet und schlagen dann bei der ersten oder zweiten Option zu, die diese Kriterien erfüllt. Weil sie dadurch viele Möglichkeiten nie erkunden und bewerten, haben sie weniger Opportunitätskosten zu ertragen und sind mit ihrer Entscheidung glücklicher als Maximizer.
System 1, das bei Kahneman ja eher schlecht wegkommt, kann man deshalb durchaus etwas Positives abgewinnen! Mit System 2 allein liefen Gefahr, uns in der Suche zu verlieren und wären dann trotzdem mit der Entscheidung unzufrieden. Auf das Zusammenspiel kommt es also an. Mit System 2 definieren wir die Kriterien und schränken darüber den Suchraum ein. Wenn wir dann ausreichend Optionen aufgetan haben, die diese Kriterien erfüllen, kann gerne System 1 mit einer geeigneten Heuristik die Entscheidung treffen.
17 Kommentare
Servus Marcus!
Toller Artikel wieder! Kennt glaube ich jeder das Dilemma.
Wie sieht’s bei dir aus, wo bist du demnächst anzutreffen, hast du dich schon entschieden?
Bis bald,
Barney
Danke, Barney! Das wird am 1.2. aufgelöst
Hallo Marcus,
toll aufbereitet, das Thema.
Ich fühle mich mit kleiner, ggf. kuratierter Auswahl auch wohler.
Dass maximale Auswahl dennoch manchen erstrebenswert erscheint, sieht man z.B. auch an diesem Satz aus dem EU-Kartellrecht (zit. nach einem BMW Leitfaden): „Auf Angebotsseite wird neben dem Preiswettbewerb u. a. auch die Produktvielfalt geschützt, d. h. der (End-) Kunde soll aus einem größtmöglichen Angebot das für ihn passende Produkt auswählen können.“
Das klingt nicht gerade nach maßvollem Umgang mit der Psyche des Einzelnen und Ressourcen im allgemeinen.
Bleib gesund
Oliver
Danke Oliver für deine Ergänzungen. Das ist tatsächlich nicht der richtige Umgang mit der Psyche des Kunden. Unternehmen wie Apple wissen das auch. Wir erinnern uns an Steve Jobs als er zurückkam zu Apple und das Angebot radikal verschlankte: zwei Produktlinien, Pro und Consumer, plus zwei Ausprägungen, Desktop und Laptop. That’s it.
Witzig, beim Lesen des Artikels ist mir gerade auch das eingefallen: statt unzähliger verschiedener Modelle gibt es bei Apple halt nur wenige. Das macht es für all jene so viel einfacher, die wie ich einfach Entscheidungsmüde sind. Mittlerweile bin ich auch bereit dafür etwas mehr zu bezahlen.
Schöner Artikel Herr Raitner. Das Beispiel mit den aktuellen Bildern ist auch sehr treffend und spiegelt sehr gut wieder, wie die Menschen aktuell Entscheidungen treffen und sich teilweise in „Gefahren“ begeben.
Vielen Dank! Ja, dieses mediale Dauerfeuer bleibt nicht ohne Wirkung.
Hallo, gibt es eine englischsprachige Version des Artikels?
Noch nicht. Die englischen Übersetzungen haben in den letzten Jahren nicht genug Leser gefunden. Aber wenn gewünscht, kann ich den natürlich noch übersetzen am Wochenende.
Wenn die Übersetzung jetzt nur wegen mir wäre, dann lohnt der Aufwand nicht und ich kann mich selbst im Übersetzen üben ;) Ich fand den Artikel für einen Freund in GB interessant, wir hatten neulich auch über dieses Thema diskutiert. Ich war auch der Meinung, ich konnte letztes Jahr noch die Sprache umstellen auf der Homepage, das ist dann wohl auch erstmal entfallen?
Verstehe! Umschalten der Sprache geht prinzipiell immer noch https://raitner.de/en ist nur nicht mehr verlinkt im Menü … ich überlege mir das mit der Übersetzung
Die monokausale Reduktion der Erklärung menschlichen Handelns auf psychologische Aspekte halte ich für verfehlt, weil das die kulturellen bzw. sozialen (besser soziologischen/ historischen) Faktoren für das Werden einens Menschen von Heute unzulässig vernachlässigt. Der Säbelzahntiger ist irrelevant und erklärt nichts!! Wir alle wissen nicht wirklich, wie sich der Mensch der Steinzeit verhalten hat, ob er überhaupt gebrüllt hat. Unser Wissen über die Vergagenheit ist unser heutiges, von uns kreirtes Wissen!! Hinzu kommt das Beispiel: „Eine vorschnelle Entscheidung führt also leicht zu Fehlern,“ Das ist eine typische Tautologie, dennn erst wenn Fehler als Ergebnis einer Entscheidung zugeordnet werden, kann sie als vorschnell gedacht werden. Und wir können heutzutage leicht sehen, dass sich Menschen unterschiedlicher Kulturen ganz unsterschiedlich auch in Entscheidungssituation verhalten, schon die Definition einer Eintschceidunggssituation differiert. usw.
Danke für deinen Kommentar! Es ging keineswegs um monokausale Reduktion, sondern im Gegenteil darum zu zeigen, wie komplex es im menschlichen Denken zugeht.
Gerd Giegerenzer würde das bestreiten und wahrscheinlich sagen dass wir ganz überwiegend gar nicht denken während wir Entscheidungen treffen. Die Entscheidung fällt nahezu immer schon vorher und es wird danach versucht rational zu begründen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerd_Gigerenzer#Bauchentscheidungen
Stimmt, Giegerenzer ist eine guter Ergänzung zu dem Artikel.
Übrigens interessant dass der Artikel quasi bei Quarks abgeschrieben ist… Ernsthaft jetzt, Markus?
https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/darum-sind-unsere-entscheidungen-oft-irrational/
Ja, ernsthaft. Und „quasi abgeschrieben“ finde ich nicht angemessen. Vielleicht sind wir einfach nur unabhängig zu demselben Schluss gekommen.