Technologie bietet uns eine Fülle an einfach zugänglichen Verlockungen mit denen wir unseren Schmerz kurzfristig dämpfen können. Schuld sind aber nicht Facebook, YouTube und Netflix, dass wir zu viel Zeit damit vertrödeln. Schuld sind wir letztlich selbst, wenn wir in damit unangenehme Gefühle betäuben.
Gäbe es diese Technologien nicht, würden wir uns anders ablenken. Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich meine Dissertation schrieb – selten war meine Wohnung sauberer und aufgeräumter. Vor dem Hintergrund dieser schwierigen und dadurch oft unangenehmen Aufgabe war sogar Putzen eine willkommene Ablenkung. Wäre ich damals schon auf Twitter gewesen, wer weiß, ob ich meine Promotion je beendet hätte. Auch ohne Social Media war das schon ein zähes Unterfangen.
Most people don’t want to acknowledge the uncomfortable truth that distraction is always an unhealthy escape from reality. How we deal with uncomfortable internal triggers determines whether we pursue healthful acts of traction or self-defeating distractions.
Nir Eyal (2019). Indistractable
Mehr noch als schwierige Aufgaben und die Angst, nicht zu genügen, scheint der Mensch aber Langeweile und Einsamkeit zu hassen. In einer 2014 in Science veröffentlichten Studie wurden Studienteilnehmer für 15 Minuten in einen fast leeren Raum gesetzt. Ihre einzige Möglichkeit zur Ablenkung war ein Gerät, mit dem sie sich selbst mit Elektroschocks traktieren konnten. Genau das machten 67 % der Männer und 25 % der Frauen auch und viele sogar mehrfach, obwohl sie vorab angaben, dass sie sogar Geld bezahlen würden, um einen Elektroschock zu vermeiden. Die Menschen bevorzugen es also irgendetwas zu tun anstatt einfach nur nichts, selbst wenn dieses Irgendetwas große Schmerzen verursachte.
Dissatisfaction and discomfort dominate our brain’s default state, but we can use them to motivate us instead of defeat us.
Nir Eyal (2019). Indistractable
Die Ablenkung hat ihren Ursprung also nicht in der Technologie und den Geräten, durch die wir diese Technologie ständig in unserer Nähe haben, sondern entspringt unserem Umgang mit unangenehmen Gefühlen. Dieses Unbehagen hat aber auch einen Grund und seine Berechtigung. Es treibt uns Menschen dazu an, etwas Neues auszuprobieren und nach Höherem und Besserem zu streben. Es ist also kein Fehler, dass wir Langeweile als unangenehm empfinden, sondern vielmehr ein großer Überlebensvorteil unserer Spezies. Die Kunst ist es allerdings, mit unserem Unbehagen konstruktiv umzugehen und die daraus resultierende Energie in Produktivität zu lenken, anstatt uns belanglos zu zerstreuen.
Das Problem des ständig abgelenkten Individuums hat keine technische Ursache. Technischen Interventionen wie dem Abstellen von Mitteilungen auf dem Smartphone oder das Löschen von Social-Media-Apps, wie ich das im Sommer tat, bleiben daher nur an der Oberfläche und helfen nur wenig. Es geht vielmehr darum, diese internen Auslöser zu bemerken und einen Raum zu schaffen zwischen Reiz und Reaktion, um dann unsere Reaktion bewusst und zielgerichteter zu wählen.
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.
Viktor Frankl
Wenn wir also das nächste Mal die Verlockung spüren, „nur mal kurz“ bei Facebook oder Twitter vorbeizuschauen, können wir das zunächst achtsam bemerken und anerkennen. Anschließend nehmen wir uns die Zeit, um die Auslöser und Gefühle zu erkunden, die wir mit diesem Bedürfnis routinemäßig besänftigen wollen. Vielleicht ist da das Gefühl nach Anerkennung in einer schwierigen Lebensphase und jedes Like auf Facebook mehr als willkommen. Vielleicht ist es aber auch eher ein Gefühl der Hilflosigkeit in Anbetracht der schwierigen Aufgabe und jede einfach zu erledigende Tätigkeit eine willkommene Alternative, weshalb meine Wohnung damals auch sehr aufgeräumt war.
Um Raum zwischen diesen Reiz und unserer Reaktion zu schaffen schlägt Nir Eyal in seinem Buch die „10 Minuten Regel“ vor. Anstatt uns für unser Verlangen nach Ablenkung, nach Facebook oder nach Schokolade zu verurteilen, sagen wir uns einfach, dass wir diesem Verlangen gerne nachgeben können, aber nicht sofort, sondern erst in zehn Minuten. In der Regel verfliegen die inneren Reize und Gefühle rasch und damit auch das Verlangen, das sie ausgelöst hatten.
Im Kern geht es hier um Achtsamkeit. Es geht darum, innere und äußere Reize wahrzunehmen ohne zu bewerten oder reflexhaft zu reagieren. Insofern ist Achtsamkeit also die Basis von Produktivität. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Unternehmen wie Google und SAP große Programme zum Praktizieren von Achtsamkeit für ihre Mitarbeiter anbieten.
2 Kommentare
Hallo Marcus, vielen Dank für diesen interessanten Beitrag, der mir eine neue Perspektive eröffnet hat. Mir war der Raum zwischen Reiz und Reaktion als Möglichkeit zur Emotionsregulation bekannt, den Bezug zur Ablenkung z.B. durch die sozialen Medien habe ich bisher nicht gesehen. Ich werde die 10-Minuten-Regel mal ausprobieren und bin gespannt auf das Ergebnis.
Herzliche Grüße
Sabine
Liebe Sabine, vielen Dank. Es freut mich, dass dir der Beitrag gefiel. Im Kern geht es ja immer um Emotionsregulation, wie ich versucht habe darzulegen. Insofern passt das doch super.