Herr Dr. Raitner, in Ihrem Manifest für menschliche Führung stellen Sie in Anlehnung an das Agile Manifest sechs Thesen auf. Können Sie uns diese beschreiben?
[…] Die erste lautet: „Entfaltung menschlichen Potenzials mehr als Einsatz menschlicher Ressourcen.“ Hier geht es darum, was die Aufgabe eines Chefs gegenüber seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist: ihr Potenzial zu erkennen und zur Entfaltung zu bringen, sie erfolgreich zu machen. […]
Wenn wir über Selbstorganisation und gute Entscheidungen im Hinblick auf agiles Arbeiten reden, dann brauchen wir Diversität, und darum heißt die zweite These: „Diversität und Dissens mehr als Konformität und Konsens.“ Das muss man als Chef aushalten können, denn es ist ganz wichtig, dass Mitarbeiter auch widersprechen.
Die dritte These lautet: „Führen mit Sinn und Vertrauen mehr als Anweisung und Kontrolle.“ Ich bin davon überzeugt, dass Führung eine sinnstiftende Tätigkeit ist. Ich nutze hier gerne das Bild eines Gärtners. Als Führungskraft bin ich mehr ein Gärtner, der Rahmenbedingungen für gutes Wachstum schafft, als ein Schachmeister, der die Figuren bewegt. […]
Die vierte These lautet: „Anführer hervorbringen mehr als Anhänger anführen.“ Hier bringt die englische Übersetzung den Sinn noch besser hervor: „Growing leaders over leading followers.“ Als Führungskraft darf ich meine Mitarbeiter nicht kleinmachen oder gar kleinhalten. […]
Die am schwierigsten zu erklärende These lautet: „Beiträge zu Netzwerken mehr als Positionen in Hierarchien.“ Für eine Führungskraft sind heute mehr Fähigkeiten nötig, als nur die Karriereleiter möglichst weit hochzuklettern. Die Hierarchie ist ohne Frage eine angemessene Organisationsform, um das heutige und bekannte Geschäft effizient zu organisieren. Wenn es aber darum geht, adäquat auf den immer höher werdenden Veränderungsdruck in immer kürzerer Zeit zu reagieren, stoßen Hierarchie und klassische Change-Programme an Grenzen. Sich ein Netzwerk in einem Unternehmen aufzubauen, es zu pflegen und darin seine Beiträge zu leisten, ist eine ganz wesentliche Aufgabe von Führung, um Organisationen in Zeiten des Wandels zukunftsfähig zu gestalten.
Und die letzte These ist sozusagen die Aufforderung an die Kunst der Beidhändigkeit. Sie lautet: „Mutig das Neue erkunden mehr als effizient das Bekannte ausschöpfen.“ Es gehört auch immer Mut dazu, etwas Neues auszuprobieren und anders zu denken.
Neben diesen Thesen steht, wie auch der Titel Ihres Manifests schon sagt, menschliche Führung im Fokus. Was bedeutet diese für Sie? Oder auch, was bedeutet sie nicht?
Tatsächlich habe ich lange überlegt, wie der Titel lauten soll. Ich war erst bei den Themen Agilität, agile Führung und Ähnliches. Das trifft es aber nicht ganz. Im Englischen gibt es die Wörter „human“ und „humane“, und Letzteres trifft hier den eigentlichen Sinn, denn es geht nicht nur um menschliche, sondern vor allem auch um menschenwürdige Führung. […] Hier kommen wir wieder auf das Beispiel mit dem Garten zurück. Es ist relativ sinnlos, im Garten neben einer Tomate zu stehen und diese mit zusätzlichen Düngergaben zu mehr Wachstum bringen zu wollen, wenn die Umgebung für das Anbauen von Tomaten einfach nicht passt. Die Tomate wird nie wachsen. Und genau darum geht es mir auch. Eine menschenwürdige Wirtschaft zu schaffen, in der der Mensch nicht nur Ressource oder Mittel ist, sondern Zweck des Wirtschaftens. Bodo Janssen beziehungsweise Anselm Grün haben in diesem Rahmen auch einen sehr treffenden Begriff geprägt. Sie betrachten Unternehmen als Werkstätten für gelingendes Leben. […]
Haben Sie denn selbst schon einmal unmenschliche Führung oder Beispiele, wie es gar nicht laufen sollte, erlebt?
[…] Mich frustriert es einfach, wenn ich sehe, wie viel ungenutztes Potenzial in den Menschen steckt, gerade in großen Konzernen. Ich kenne zahlreiche Menschen, die machen einfach ihren Job, ihren Dienst nach Vorschrift, leiten aber in ihrer Freizeit Vereine oder den Krisenstab vom Roten Kreuz. Und wir schaffen es nicht, uns diese Leidenschaften der Mitarbeiter im Unternehmen zunutze zu machen. […]
In unserer schnelllebigen Zeit steht die Rolle der Führung zur Diskussion. Für Sie ist menschliche Führung keine Frage der Position, sondern eine Frage der Haltung. Welche Haltung ist hier genau nötig?
[… D]er CEO von Google, Sundar Pichai, hat einmal gesagt, dass Führung bedeutet, andere erfolgreich zu machen. Das ist eine schöne Haltung. Das sollte die Grundphilosophie einer jeden Führungskraft sein, welche aber auch das richtige Menschenbild voraussetzt. […]
Dennoch sind viele Unternehmen nach wie vor hierarchisch organisiert. Welchen Tipp geben Sie angehenden Führungskräften, die mit dieser Art der neuen Führung, der menschlichen und vielleicht auch emotionaleren Führung, Schwierigkeiten haben?
Ich erlebe viele Führungskräfte, die unter der Diskrepanz zwischen innerer Haltung und äußeren Erwartungen leiden. An jede Führungskraft werden Ansprüche von außen herangetragen, die nicht zwangsläufig auch ihre Ansprüche sind. Was ich beispielsweise sehr oft erlebe, ist die Meinung, dass eine Führungskraft sich in sämtlichen Bereichen auskennen muss. Dass man als Chef quasi der beste Mitarbeiter ist, alles im Detail wissen muss und immer und über alles auskunftsfähig ist. Das funktioniert so aber nicht. […]
Der Grünfink, das interne Magazin für ca. 8.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von DATEV, erscheint halbjährlich in Form einer Schwerpunktausgabe. Thema des aktuellen Magazins aus dem dieser Artikel stammt, ist „New Work. Warum wir unsere Rollen neu denken“.