Interview: Die Kunst der menschenwürdigen Führung

Zur aktu­el­len Aus­ga­be des Grün­fink, dem inter­nen Maga­zin für ca. 8.100 Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter von DATEV, durf­te ich mei­ne Ideen zu men­schen­wür­di­ger Füh­rung bei­steu­ern. Es geht um die Hal­tung des Gärt­ners, die Moti­va­ti­on der Toma­te und dem Unter­neh­men als Werk­statt für gelin­gen­des Leben.

Herr Dr. Rait­ner, in Ihrem Mani­fest für mensch­li­che Füh­rung stel­len Sie in Anleh­nung an das Agi­le Mani­fest sechs The­sen auf. Kön­nen Sie uns die­se beschreiben?

[…] Die ers­te lau­tet: „Ent­fal­tung mensch­li­chen Poten­zi­als mehr als Ein­satz mensch­li­cher Res­sour­cen.“ Hier geht es dar­um, was die Auf­ga­be eines Chefs gegen­über sei­nen Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern ist: ihr Poten­zi­al zu erken­nen und zur Ent­fal­tung zu brin­gen, sie erfolg­reich zu machen. […]

Wenn wir über Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und gute Ent­schei­dun­gen im Hin­blick auf agi­les Arbei­ten reden, dann brau­chen wir Diver­si­tät, und dar­um heißt die zwei­te The­se: „Diver­si­tät und Dis­sens mehr als Kon­for­mi­tät und Kon­sens.“ Das muss man als Chef aus­hal­ten kön­nen, denn es ist ganz wich­tig, dass Mit­ar­bei­ter auch widersprechen. 

Die drit­te The­se lau­tet: „Füh­ren mit Sinn und Ver­trau­en mehr als Anwei­sung und Kon­trol­le.“ Ich bin davon über­zeugt, dass Füh­rung eine sinn­stif­ten­de Tätig­keit ist. Ich nut­ze hier ger­ne das Bild eines Gärt­ners. Als Füh­rungs­kraft bin ich mehr ein Gärt­ner, der Rah­men­be­din­gun­gen für gutes Wachs­tum schafft, als ein Schach­meis­ter, der die Figu­ren bewegt. […]

Die vier­te The­se lau­tet: „Anfüh­rer her­vor­brin­gen mehr als Anhän­ger anfüh­ren.“ Hier bringt die eng­li­sche Über­set­zung den Sinn noch bes­ser her­vor: „Gro­wing lea­ders over lea­ding fol­lo­wers.“ Als Füh­rungs­kraft darf ich mei­ne Mit­ar­bei­ter nicht klein­ma­chen oder gar kleinhalten. […] 

Die am schwie­rigs­ten zu erklä­ren­de The­se lau­tet: „Bei­trä­ge zu Netz­wer­ken mehr als Posi­tio­nen in Hier­ar­chien.“ Für eine Füh­rungs­kraft sind heu­te mehr Fähig­kei­ten nötig, als nur die Kar­rie­re­lei­ter mög­lichst weit hoch­zu­klet­tern. Die Hier­ar­chie ist ohne Fra­ge eine ange­mes­se­ne Orga­ni­sa­ti­ons­form, um das heu­ti­ge und bekann­te Geschäft effi­zi­ent zu orga­ni­sie­ren. Wenn es aber dar­um geht, adäquat auf den immer höher wer­den­den Ver­än­de­rungs­druck in immer kür­ze­rer Zeit zu reagie­ren, sto­ßen Hier­ar­chie und klas­si­sche Chan­ge-Pro­gram­me an Gren­zen. Sich ein Netz­werk in einem Unter­neh­men auf­zu­bau­en, es zu pfle­gen und dar­in sei­ne Bei­trä­ge zu leis­ten, ist eine ganz wesent­li­che Auf­ga­be von Füh­rung, um Orga­ni­sa­tio­nen in Zei­ten des Wan­dels zukunfts­fä­hig zu gestalten.

Und die letz­te The­se ist sozu­sa­gen die Auf­for­de­rung an die Kunst der Beid­hän­dig­keit. Sie lau­tet: „Mutig das Neue erkun­den mehr als effi­zi­ent das Bekann­te aus­schöp­fen.“ Es gehört auch immer Mut dazu, etwas Neu­es aus­zu­pro­bie­ren und anders zu denken.

Neben die­sen The­sen steht, wie auch der Titel Ihres Mani­fests schon sagt, mensch­li­che Füh­rung im Fokus. Was bedeu­tet die­se für Sie? Oder auch, was bedeu­tet sie nicht?

Tat­säch­lich habe ich lan­ge über­legt, wie der Titel lau­ten soll. Ich war erst bei den The­men Agi­li­tät, agi­le Füh­rung und Ähn­li­ches. Das trifft es aber nicht ganz. Im Eng­li­schen gibt es die Wör­ter „human“ und „huma­ne“, und Letz­te­res trifft hier den eigent­li­chen Sinn, denn es geht nicht nur um mensch­li­che, son­dern vor allem auch um men­schen­wür­di­ge Füh­rung. […] Hier kom­men wir wie­der auf das Bei­spiel mit dem Gar­ten zurück. Es ist rela­tiv sinn­los, im Gar­ten neben einer Toma­te zu ste­hen und die­se mit zusätz­li­chen Dün­ger­ga­ben zu mehr Wachs­tum brin­gen zu wol­len, wenn die Umge­bung für das Anbau­en von Toma­ten ein­fach nicht passt. Die Toma­te wird nie wach­sen. Und genau dar­um geht es mir auch. Eine men­schen­wür­di­ge Wirt­schaft zu schaf­fen, in der der Mensch nicht nur Res­sour­ce oder Mit­tel ist, son­dern Zweck des Wirt­schaf­tens. Bodo Jans­sen bezie­hungs­wei­se Anselm Grün haben in die­sem Rah­men auch einen sehr tref­fen­den Begriff geprägt. Sie betrach­ten Unter­neh­men als Werk­stät­ten für gelin­gen­des Leben. […]

Haben Sie denn selbst schon ein­mal unmensch­li­che Füh­rung oder Bei­spie­le, wie es gar nicht lau­fen soll­te, erlebt?

[…] Mich frus­triert es ein­fach, wenn ich sehe, wie viel unge­nutz­tes Poten­zi­al in den Men­schen steckt, gera­de in gro­ßen Kon­zer­nen. Ich ken­ne zahl­rei­che Men­schen, die machen ein­fach ihren Job, ihren Dienst nach Vor­schrift, lei­ten aber in ihrer Frei­zeit Ver­ei­ne oder den Kri­sen­stab vom Roten Kreuz. Und wir schaf­fen es nicht, uns die­se Lei­den­schaf­ten der Mit­ar­bei­ter im Unter­neh­men zunut­ze zu machen. […]

In unse­rer schnell­le­bi­gen Zeit steht die Rol­le der Füh­rung zur Dis­kus­si­on. Für Sie ist mensch­li­che Füh­rung kei­ne Fra­ge der Posi­ti­on, son­dern eine Fra­ge der Hal­tung. Wel­che Hal­tung ist hier genau nötig?

[… D]er CEO von Goog­le, Sun­dar Pichai, hat ein­mal gesagt, dass Füh­rung bedeu­tet, ande­re erfolg­reich zu machen. Das ist eine schö­ne Hal­tung. Das soll­te die Grund­phi­lo­so­phie einer jeden Füh­rungs­kraft sein, wel­che aber auch das rich­ti­ge Men­schen­bild voraussetzt. […]

Den­noch sind vie­le Unter­neh­men nach wie vor hier­ar­chisch orga­ni­siert. Wel­chen Tipp geben Sie ange­hen­den Füh­rungs­kräf­ten, die mit die­ser Art der neu­en Füh­rung, der mensch­li­chen und viel­leicht auch emo­tio­na­le­ren Füh­rung, Schwie­rig­kei­ten haben?

Ich erle­be vie­le Füh­rungs­kräf­te, die unter der Dis­kre­panz zwi­schen inne­rer Hal­tung und äuße­ren Erwar­tun­gen lei­den. An jede Füh­rungs­kraft wer­den Ansprü­che von außen her­an­ge­tra­gen, die nicht zwangs­läu­fig auch ihre Ansprü­che sind. Was ich bei­spiels­wei­se sehr oft erle­be, ist die Mei­nung, dass eine Füh­rungs­kraft sich in sämt­li­chen Berei­chen aus­ken­nen muss. Dass man als Chef qua­si der bes­te Mit­ar­bei­ter ist, alles im Detail wis­sen muss und immer und über alles aus­kunfts­fä­hig ist. Das funk­tio­niert so aber nicht. […]

Der Grün­fink, das inter­ne Maga­zin für ca. 8.100 Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter von DATEV, erscheint halb­jähr­lich in Form einer Schwer­punkt­aus­ga­be. The­ma des aktu­el­len Maga­zins aus dem die­ser Arti­kel stammt, ist „New Work. War­um wir unse­re Rol­len neu den­ken“.



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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

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