Vielleicht liegt es an diesen turbulenten Zeiten, in denen wir deutlich unsere Hilflosigkeit spüren, dass die Lebensphilosophie der Stoiker gerade wiederentdeckt wird. Von vielen anderen Schulen der Philosophie unterscheidet sich der Stoizismus durch ein hohes Maß an Lebensnähe. Den Stoikern ging es stets um die Frage nach dem guten Leben. Dafür bietet der Stoizismus zeitlose Überlegungen und praktische Hilfestellungen.
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Reinhold Niebuhr
Was der US-amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr hier in seinem berühmten Gelassenheitsgebet erbittet, insbesondere die Weisheit zur Unterscheidung zwischen Dingen, die in unserer Macht stehen und solchen, auf die wir keinen Einfluss haben, ist eine ganz zentrale Praktik der Stoiker. Epiktet etwa schreibt gleich zu Beginn seines Handbüchleins (Epictetus, 1984): „Einige Dinge stehen in unserer Macht, andere hingegen nicht.“ Als stoischer Philosoph ging es ihm darum, die einen Dinge von den anderen zu unterscheiden, um das Augenmerk lieber auf die Dinge zu richten, über die wir wirklich Macht haben. Er gibt sodann auch gleich Beispiele für beide Kategorien: „In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist. – Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist.“
Der moderne, karriereorientiert Mensch neigt freilich dazu Epiktet reflexartig zu widersprechen und selbstverständlich Vermögen, Ansehen und Ämter als in der eigenen Macht befindlich zu sehen. Genau darum geht es schließlich in unserer Leistungsgesellschaft. Aber sind diese Dinge wirklich vollständig in unserer Macht? Vielleicht liegt genau hier der Denkfehler, der so viele in Unzufriedenheit oder gar Burnout stürzt.
Die von Epiktet suggerierte Zweiteilung (Dichotomie) in Dinge, die in unserer Gewalt sind und solche, die es nicht sind, ist in Wirklichkeit eine Dreiteilung (Trichotomie). Neben den Dingen, die vollständig von uns kontrolliert werden, unterscheidet (Irvine et al., 2020) zwischen Dingen, über die wir keinerlei Gewalt haben und solchen, auf die wir wenigstens teilweise Einfluss haben.
Es liegt rein logisch auf der Hand, dass es einerseits sinnlos und daher andererseits der Gemütsruhe abträglich ist, sich über Dinge aufzuregen, die wir gar nicht beeinflussen können. Das Wetter ist ein zwar beliebtes, wenngleich eher harmloses Beispiel für diese Kategorie. Besorgniserregender sind Dinge wie der Ausbruch einer Pandemie oder eines Kriegs, worüber wir keinerlei Gewalt haben. Die stoische Kunst ist es, diesen unabänderlichen Umständen gelassen gegenüberzutreten, sie rückwärts gerichtet fatalistisch zu akzeptieren und dennoch das Leben, Gesellschaft und Zukunft vorwärts gerichtet aktiv zu gestalten.
Die Stoiker waren keine lethargischen Einsiedler ohne weltliche Ambitionen, sondern oftmals sehr engagiert in Gesellschaft und Politik. Mark Aurel, der bedeutendste Vertreter der jüngeren Stoa, war römischer Kaiser, Cato der Jüngere kämpfte „mutig für den Wiederaufbau der römischen Republik“ und Seneca „war nicht nur Philosoph, sondern auch erfolgreicher Bühnenautor, Berater des Kaisers und so etwas wie ein Investmentbanker des 1. Jahrhunderts.“ (Irvine et al., 2020)
Wie passt es also in das stoische Weltbild, sich einerseits auf die Dinge zu konzentrieren, über die wir Macht haben und sich trotzdem überaus erfolgreich in Bereichen zu engagieren, die gar nicht in der eigenen Macht liegen? Die Antwort liegt in der von (Irvine et al., 2020) genannten dritten Kategorie der Dinge, also solchen, auf die wir teilweise Einfluss nehmen können. Der Ausgang eines Tennismatches liegt nicht vollständig in unserer Macht, aber ganz machtlos sind wir dennoch nicht. Wir können einerseits bestmöglich trainieren und andererseits den Ausgang positiv beeinflussen, indem wir versuchen, unsere beste Leistung abzurufen. Wenn wir dann dennoch das Match verlieren, ist unsere Gemütsruhe nicht gefährdet, weil wir eben unser Bestes gegeben haben und uns sozusagen nichts vorzuwerfen haben.
Es macht einen entscheidenden Unterschied, welche Ziele wir uns setzen. Bestmöglich zu trainieren und so gut wie möglich zu spielen, das liegt vollständig in unserer Macht, das Match zu gewinnen hingegen nicht vollständig. Das Training und die Motivation und Konzentration während des Spiels begünstigen den Sieg, aber viele andere Faktoren außerhalb des eigenen Einflusses stehen dem entgegen. Ebenso verhält es sich mit den Dingen die Epiktet auflistet, namentlich „Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter“ (Epictetus, 1984). Wir können und sollten uns jeweils Ziele setzen, die komplett in unserer Hand liegen und die diese Dinge positiv beeinflussen, vollständig in unserer Gewalt liegen sie aber alle nicht.
„Durch die Internalisierung von Zielen sind Stoiker in der Lage, ihre innere Ruhe aufrechtzuerhalten und sich gleichzeitig mit Dingen zu befassen, die sie nur partiell kontrollieren können.“ (Irvine et al., 2020) Diese kluge Fokussierung auf Ziele, deren Erreichung in unserer Macht liegt, ist das entscheidende Verbindungsstück zwischen Ambition und Gelassenheit. Ich sollte mir also vornehmen, in diesem Artikel meine schriftstellerischen Fähigkeiten bestmöglich zur Entfaltung zu bringen. Ob dieser Text dann gelesen, weiterempfohlen wird, vielleicht viral geht oder gar in einer angesehenen Zeitschrift erscheint, darauf habe ich keinen Einfluss, das sollte ich mir nicht zum Ziel nehmen und darum sollte ich mich auch nicht kümmern. Insofern war es töricht von mir oder jedenfalls meiner Gemütsruhe abträglich, den Fokus auf die bestmögliche Ausübung des Schreibens zu verlieren und mich stattdessen der Sucht nach dem schnellen Like hinzugeben.
Literatur
Epictetus. (1984). Handbüchlein der Moral und Unterredungen (11. Aufl). Kröner.
Irvine, W. B., Schuler, K., & Knupper, F. (2020). Eine Anleitung zum guten Leben Wie Sie die alte Kunst des Stoizismus für Ihr Leben nutzen. Finanz Buch.
Titelbild von Clark Tibbs bei Unsplash
3 Kommentare
Servus Markus!
Der Text gefällt mir sehr gut und motiviert zum Überdenken der Ziele. Vielen Dank!
Hoffe dir geht es gut und der neue Job macht Spaß!
Barney
Marcus Raitner: „Sein Bestes geben“…
…gehört zu den Perlen der Menschen.
Nützliches und Interessantes steht nicht allen Menschen in gleicher Weise offen, aber Wesentliches ― wie Weisheit und Mitgefühl ― ist allen Menschen zugänglich.
Auch „das Bestes zu geben“ ist uns allen jederzeit möglich
― unabhängig von Ort, Situation, Tätigkeit und Fähigkeit.
„Einige Dinge stehen in unserer
Macht, andere hingegen nicht.“
― Epiktet
Ob „einige Dinge“ wirklich in unserer Macht stehen, sei
mal dahingestellt, zumindest können wir es so deuten.
Unser Menschenverstand neigt halt dazu,
die Dinge unter Kontrolle haben zu wollen.
Epiktet: „In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist.“
Habe ich „meine Meinung in der Hand?
Haben wir die Begierde in der Hand?
Mein Handeln kann ich steuern, aber die Begierde?
Für den Trieb stellt sich die selbe Frage.
Und wenn gegen etwas ein Widerwille auftaucht?
„Der Mensch kann zwar tun, was er will.
Er kann aber nicht wollen, was er will.“
― Arthur Schopenhauer
Epiktet: „Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist.“
Ja, den Leib haben wir nicht in der Hand.
Ein paar Minuten lang können wir unsere Atmung willentlich beeinflussen. Sobald wir abgelenkt sind, übernimmt freundlicherweise der Körper wieder die Zuteilung an Sauerstoff. Er kann das besser als wir.
Macht & Gewalt des Menschen ist
mehr Wunschdenken als Realität.
Der Satz des Herrn Niebuhr ist – eingewickelt in die Form
eines einfachen Gebets – ein klarer Ausdruck von Weisheit:
Gott, gib mir…
✿ die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
✿ den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und
✿ die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Gelassenheit, Mut, Weisheit. Jederzeit 1 : 1 anwendbar.
Dein von dir erwähnter Namens-Vetter Marcus Aurelius wäre wohl ein Mann ganz nach dem Geschmack des Platon gewesen, der in der Lage war, sich Macht und Weisheit in Personalunion vorstellen und (in seinem Fall für Athen) wünschen zu können.
Marcus: „Der Ausgang eines Tennismatches liegt nicht vollständig in unserer Macht, aber ganz machtlos sind wir dennoch nicht“
Den Ausgang von etwas habe ich nie in der Hand, aber
ich habe es immer in der Hand, mein Bestes zu geben.
Danke und
schönen Sonntag!
…auch diesmal – nach anderthalb Jahren – gut zu lesen.
Lieben Gruß
von Nirmalo