Eine ganz wesentliche Leistung von Peter Drucker war es, das Aufkommen der Wissensarbeit und den Aufstieg der Wissensarbeiter zu erkennen und Schlüsse für das Management daraus zu ziehen. Er postulierte früh, dass Wissensarbeiter nur auf Augenhöhe geführt werden können, lange bevor dieser Begriff in Mode kam. Führung war für ihn in diesem neuen Gefüge eine gleichwertige Funktion, um eine Gruppe von Menschen oder eine ganze Organisation erfolgreich zu machen. In der Wissensarbeit ist das Verhältnis von Arbeiter und Manager nicht länger gekennzeichnet durch die Unterordnung, sondern wandelt sich in ein Verhältnis der Zusammenarbeit wie bei einem Orchester:
Their relationship, in other words, is far more like that between the conductor of an orchestra and the instrumentalist than it is like the traditional superior-subordinate relationship. The superior in an organization employing knowledge workers cannot, as a rule, do the work of the supposed subordinate any more than the conductor of an orchestra can play the tuba. In turn, the knowledge worker is dependent on the superior to give direction and, above all, to define what the score is for the entire organization — that is, what are the standards and values, performance and results. And just as an orchestra can sabotage even the ablest conductor — and certainly even the most autocratic one — a knowledge organization can easily sabotage even the ablest, let alone the most autocratic, superior.
Peter F. Drucker in (Drucker & Maciariello, 2008, S. 72)
Die Wissensarbeit verschiebt die Kräfteverhältnisse des Taylorismus zugunsten der Wissensarbeiter. Waren die einfachen Arbeiter zu Zeiten Henry Fords auf den Job am Fließband angewiesen und vom Zugang zu den Produktionsmitteln der Fabrik und von ihrem Manager vollständig abhängig, tragen die Wissensarbeiter ihre Produktionsmittel stets in ihrem Kopf. Und den können sie überallhin mitnehmen. Daraus folgt, dass der Wissensarbeiter nicht mehr so sehr von Organisation und Manager abhängig ist, sondern umgekehrt die Organisation und der Manager vom Wissensarbeiter. Entsprechend zog Peter Drucker daraus den Schluss, dass Wissensarbeiter eigentlich wie Ehrenamtliche geführt werden müssen, also so als würden sie nicht bezahlt, sondern wären aus Überzeugung und der gemeinsamen Sache wegen in der Organisation.
Altogether, an increasing number of people who are full-time employees have to be managed as if they were volunteers. They are paid, to be sure. But knowledge workers have mobility. They can leave. They own their means of production, which is their knowledge. What motivates — and especially what motivates knowledge workers — is what motivates volunteers. Volunteers, we know, have to get more satisfaction from their work than paid employees, precisely because they do not get a paycheck. They need, above all, challenge. They need to know the organization’s mission and to believe in it. They need continuous training. They need to see results.
Peter F. Drucker in (Drucker & Maciariello, 2008, S. 72)
So richtig diese Erkenntnisse theoretisch waren und immer noch sind, in der Praxis veränderte sich in den letzten Jahrzehnten wenig. Die hierarchischen Strukturen sind das Maß der Dinge und Augenhöhe bleibt – wenn überhaupt – ein Lippenbekenntnis. Dass die Manager ungern ihre Machtposition aufgeben, war natürlich zu erwarten, auch wenn einige seither ihre Rolle durchaus überdachten und veränderten. Zu erwarten wäre aber auch gewesen, dass sich die Wissensarbeiter zunehmend ihrer neuen Macht bewusst würden und dadurch diese Revolution des Managements vorantreiben. In einigen Brachen stimmt das auch und der Spruch „War for talent is over – talent has won!“ traf dort schon länger zu, aber die breite Masse der Wissensarbeiter fügte sich immer noch brav in die antiquierten Strukturen ein.
Über die Gründe dafür lässt sich trefflich spekulieren. Offenbar war der Leidensdruck aber nicht groß genug. Die Corona-Pandemie änderte das schlagartig und eröffnete für viele Wissensarbeiter neue Perspektiven. Das große Durcheinander führte zu einem großen Nachdenken und einer großen Neuausrichtung, die sich dann in dem niederschlägt, was der Wirtschaftswissenschaftler Anthony Klotz treffend als „The Great Resignation“, also die große Kündigungswelle bezeichnete. Die Pandemie gerät zur Disruption der Arbeitswelt.
In einem ungewöhnlich hohen Maß kündigten seit der zweiten Jahreshälfte des Jahres 2021 Mitarbeiter in Amerika ihren Job. Wenngleich einige der Kündigungen einfach aufgeschoben waren, weil zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 jeder froh um einen sicheren Job war, lässt sich die Steigerung der Kündigung dadurch nicht vollständig erklären. Im Moment scheint die Kündigungswelle Monat für Monat größer zu werden, wie die Ergebnisse von JOLTS (Job Openings and Labor Turnover Survey) des Economic Policy Institute in der letzten Aktualisierung von 1. Februar 2022 deutlich zeigt:
In Deutschland zeigt sich dieser Trend noch nicht so extrem, was aber vermutlich an kulturellen Unterschieden liegen dürfte. Der deutsche Arbeitnehmer liebt es sicher und bleibt am liebsten ein Leben lang beim selben Arbeitgeber – in der Automobilindustrie gerne beim selben Arbeitgeber, wo schon Vater und Großvater „geschafft“ haben. Diese Kultur des deutschen Industriebeamtentums dämpft natürlich eine etwaige Kündigungswelle, wie sie Amerika mit der Great Resignation derzeit erlebt.
Dennoch regt sich auch hierzulande die Unzufriedenheit, erkennbar in einem signifikant erhöhten Wechselwillen der Arbeitnehmer: „Fast jeder zweite Beschäftigte in Deutschland (48 Prozent) hat Interesse an einem Arbeitgeberwechsel oder sucht sogar aktiv. Das sind mehr als in jeder Vorbefragung. Vor zwei Jahren lag dieser Anteil bei nur 36 Prozent, vor vier Jahren sogar bei nur 18 Prozent.“ schreibt EY in der Jobstudie 2021 (Hinz & Heinen, 2021).
Die Pandemie mit den teils massiven Maßnahmen, der politisch geschürten und medial inszenierten Angst und nicht zuletzt das leidvolle Erleben von Krankheit oder Tod hat viele zum Nachdenken über das eigene Leben gebracht, so dies in persönlichen Extremsituation stets der Fall ist. Aufgrund des globalen Ausmaßes dieser Extremsituationen sind die Auswirkungen aber entsprechend deutlich als Trend zu sehen und bleiben nicht in der individuellen Sphäre wie bei sonstigen Schicksalsschlägen.
Hinzu kommt, dass sich durch die Maßnahmen selbst die Arbeitsweise vieler Wissensarbeiter schlagartig und grundlegend verändert hat. Die Wissensarbeit hat sich von Ort und Zeit befreit und endgültig digitalisiert. Zwar machte es auch vor der Pandemie schon immer weniger Sinn, das Büro zum Arbeiten aufzusuchen, aber so war das eben und so wurde das erwartet – nicht zuletzt vom Chef, für den nur ein sichtbarer Mitarbeiter ein fleißiger Mitarbeiter ist.
Die Pandemie mit ihrem Schrecken war also einerseits Auslöser für ein großes Nachdenken über die Frage, wie wir künftig arbeiten und vielleicht nicht mehr arbeiten wollen und lieferte andererseits gleich einige Antworten auf diese Frage. Dem müssen sich Unternehmen, die Mitarbeiter anziehen oder auch nur behalten wollen, und insbesondere ihre Führungskräfte hier und heute stellen. Hier baut sich eine Welle auf, der mit Masken und Abstand halten (wieder) nicht beizukommen ist. Im Gegenteil, gerade wegen der räumlichen Distanz, braucht es menschliche Nähe und einen unverstellten Diskurs auf Augenhöhe. Die Arbeitswelt von morgen beginnt heute und wird gemeinsam gestaltet.
Der Schachmeister hat endgültig ausgedient, gefragt sind nun Gärtner, die für die ihnen anvertrauten Mitarbeiter eine förderliche Umgebung schaffen. Führung bedeutet heute mehr denn je, andere erfolgreich zu machen. Geführt wird mehr denn je über Sinn und Vertrauen, so als wären die Mitarbeiter ehrenamtlich in der Organisation, wie es schon Peter Drucker forderte.
Das Manifest für menschliche Führung (erhältlich als Taschenbuch bei Amazon) bezog seine Motivation ursprünglich aus der Frage, wie sich Führung im Wandel von einer eher klassischen zu einer agileren Organisation verändern muss. Letztlich ist es aber unerheblich, woher der Anschub kommt, um sich mit moderner, menschlicher und menschenwürdiger Führung auseinanderzusetzen. Sei es wie bei Peter Drucker die bahnbrechende Erkenntnis, dass Wissensarbeiter radikal anders geführt werden müssen oder sei es die agile Transformation, die diese Frage nach neuer Führung erneut und mit neuer Dringlichkeit aufwirft. Oder sei es der Druck durch diese Disruption der Arbeitswelt ausgelöst durch die Corona-Pandemie und dem, was wir individuell und kollektiv dabei erlebt haben und hoffentlich dabei gelernt haben.
Literatur
Drucker, P. F., & Maciariello, J. A. (2008). Management (Rev. ed). Collins.
Hinz, J.-R., & Heinen, M. (2021). EY Jobstudie 2021: Karriere und Wechselbereitschaft. [PDF]
Raitner, M. (2019). Manifest Für Menschliche Führung: Sechs Thesen Für Neue Führung Im Zeitalter der Digitalisierung. Independently Published.
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