Noch steht der klassische Projektleiter nicht auf der roten Liste der gefährdeten Arten. Aber auch für den Projektleiter gilt die Warnung Gunter Duecks: Wesentliche Teile klassischer Berufsbilder sind schon oder werden demnächst zur Commodity, also einem standardisierten Gebrauchsgut. Wer sich heute auf die in den Standards und Büchern beschriebenen Prozesse und Normen beschränkt, könnte morgen schon Bildschirmrückseitenberater sein, wie Gunter Dueck die Bediener mehr oder weniger intelligenter Software nennt, die diese Standardprozesse abbildet. In diesem Sinne wird industrielles Projektmanagement zur Commodity und darauf beschränkte Projektleiter werden tatsächlich „aussterben“.
Projektmanagement war immer schon mehr als formalisierte und standardisierte Prozesse, auch wenn Standards und Zertifizierungen diese Aspekte in den Vordergrund rücken. Wie Bernhard Schloss sehe auch ich in der Standardisierung die Gefahr der Mittelmäßigkeit. Ein Standard sollte genau das bleiben: Standardausstattung. Ein Standard kann erwartet und vorausgesetzt werden, begeistert aber niemand. Der Standard ist nur der Nährboden auf dem Professionalität entstehen kann. Interessant wird es erst bei den Sonderausstattungen.
Wenn alle „entscheidbaren Entscheidungen“ (vgl. Kommentar von Olaf Hinz zu Postindustrielles Projektmanagement) in Form von Prozessen, Handbüchern, Standards und Leitlinien geregelt sind und durch intelligente Software (halb-)automatisch ablaufen, was bleibt dann übrig? Es bleibt genau das, was Projekte so interessant und herausfordernd macht: die „unentscheidbaren Entscheidungen“, die Komplexität und das Ungewisse.
Risikomanagement ist Projektmanagment für Erwachsene.Tom deMarco und Timothy Lister. Bärentango, S.9
Wer nun den heldenhaften Impuls verspürt, Risikomanagement ernster zu nehmen, liegt nicht gänzlich falsch, läuft aber in die Falle der Kreativitäts-Apartheid industrialisierter, hierarchischer Systeme: wenige denken und lenken, der Rest führt aus. Ziel eines post-industriellen Projektleiters ist es, ein möglichst autonomes System (=Projekt) zu gestalten, das mit den rasanten Veränderungen Schritt halten kann, Risiken beherrscht und selbsttätig eine Vielfalt an strategischen Handlungsoptionen hervorbringt. Ohne Frage eine anspruchsvolle Führungsaufgabe. Diese anzunehmen und zu meistern macht aus dem austauschbaren Commodity-Projektleiter einen unverwechselbaren Profi.
Bildnachweis
Das Bild eines einen iberischen Luchs, der als akut vom Aussterben bedroht gilt, stammt von © „Programa de Conservación Ex-situ del Lince Ibérico www.lynxexsitu.es“ [CC-BY‑2.5], via Wikimedia Commons
6 Kommentare
Standard ist nicht einfach das, was innerhalb der Standardabweichung einer Normalverteilung vorkommt und was man daher notwendigerweise können muss. Ein Projekt kann nicht mit einer Normalverteilung beschrieben werden, sondern eher mit einer Pareto-Verteilung. Dafür kann man zwar formal auch eine Standardabweichung rechnen, aber sie hat wenig Relevanz. Tatsache ist, dass ein Projekt am Besten mit einer Häufung von Unerwartetem definiert werden kann. Zertifizierung wappnet nicht gegen Unvorhergesehenes und Unerwartetes, sondern wiegt den Projektleiter viel mehr in falscher Sicherheit. Daher kommen wir mit Projektmanagement nicht vom Fleck, trotz vermehrter Zertifizierung. Ich bin für eine Ausrottung dieser schädlichen Tiere.… ;-) Siehe http://bit.ly/NjIAYS
Besten Dank für den Kommentar und den Verweis auf Deinen tollen Artikel. Wir sind uns einig, dass „ein Projekt am Besten mit einer Häufung von Unerwartetem definiert werden kann“. Nun ist die Frage wie man den Begriff Standard und Norm deutet: einerseits als Standardvorgehen oder andererseits als Wissens- und Erfahrungskanon. Ich bin der Meinung, dass es gut ist eine gemeinsame Basis an Wissen zu haben, die ein Standard sein könnte und über Zertifikate bestätigt werden kann. Gefährlich wird es tatsächlich, wenn daraus ein Standardvorgehen entsteht und vorhandene Komplexität unzulässig reduziert wird. Deine Ansatz mit Modellen der Spieltheorie Risikomanagement zu betreiben finde ich sehr interessant. In der Praxis erlebe ich aber leider viel zu oft, dass die Menschen schon mit den zwei Variablen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe überfordert sind.
Vielen Dank, Marcus. Ich finde es spannend, verschiedene Sichten auszuleuchten und hoffe, es macht Dir nichts aus, wenn ich nicht gleicher Meinung bin.
Wie kannst Du von einer „Basis an Wissen und Erfahrung“ sprechen, angesichts der Tatsache, dass die Leute mit zwei Variablen überfordert sind? Spieltheorie, Wahrscheinlichkeitstheorie oder – wie wir andernorts festgestellt haben – Social Media sind Beispiele von Wissen, das von den Zertifizierungen nicht getestet wird. Was hingegen geprüft wird ist veraltetes Wissen und Erfahrungen mit Standardprojektsituationen. Einziges Ziel: Wachstum der Zertifizierungsindustrie. Für Unerwartetes kann man keine Erfahrung aufbauen, sonst wär’s nicht unerwartet. Hingegen könnte man Erfahrung darin aufbauen, wie man persönlich auf Unerwartetes reagiert. Ich spreche also von Selbsterfahrung und Persönlichkeitsbildung bis hin zum Bewusstseinmachen persönlicher mentaler Modellen. DAS wäre mal eine richtige (Projekt)Managerausbildung. Solche Dinge können aber kaum zertifiziert werden, weil schwer zu testen. Daher will natürlich niemand etwas davon wissen. Sich selber zu verändern und dann noch den seit 50 Jahren angewandte Vorgehenskanon los zu lassen, überfordert Menschen noch mehr, als eine zweidimensionale Wahrscheinlichkeitsrechnung und macht vor allem Angst. Also bleibt man beim Kanon, auch wenn offensichtlich immer mehr Projekte baden gehen, wie der Chaosreport deutlich zeigt. Das nennt man Pfadabhängigkeit.
Ich denke nicht, dass meine Sicht besser ist, als Deine. Aber ich möchte ihr Ausdruck verleihen.
Danke für Deine Sicht, Peter. Ich begrüße es ausdrücklich, dass Du nicht (ganz) meiner Meinung bist! Wir liegen aber gar doch nicht so weit auseinander. Du hast absolut recht: es geht in Projekten hauptsächlich um den Umgang mit Unerwartetem, sonst wären es keine Projekte. Die dafür notwendige systematische Selbsterfahrung und Persönlichkeitsbildung kann ich nur befürworten, schließlich propagieren wir genau das in Form von Projektcoaching. Wir unterscheiden uns maximal in der Frage, ob das was in gängigen Standards zertifiziert wird einen gewissen Mehrwert hat und wenigstens als Basis taugt (meine These) oder ob es veraltet und irreführend ist (Deine Position).
Normalverteilung, Pareto. So ein Quark. Zu viel Theorie. Genau wegen so einem sinnlosen Palaver gehen Projekte baden. Alles was Du für einen Projektleiter brauchst lernst du auf dem Spielplatz. Entweder, das stimme ich Peter zu, der Projektleiter hat eine mentale Stärke und kann diese durch klare Kommunikation einsetzen oder nicht. Durch Zertifizierung entstehen keine Projektleiter. Kapazitätsplanung, Controlling und Risikoabschätzungen gehören zum gesunden Menschenverstand, das ist kein Hokuspokus.
Danke für Deine klaren Worte: made my day!