Viel wurde in den letzten Jahren berichtet, analysiert und philosophiert zum Thema Burnout. Spätestens seit sich auch Vertreter der Reichen, Schönen und Berühmten dazu bekannt haben, nimmt die gefühlte Verbreitung des Phänomens epidemische Ausmaße an. Ebenso wie die vielfältigen Angebote einer boomenden Wellness-Industrie, die quasi noch aus dem Untergang Kapital schlägt. Viel schwerer wiegt aber, dass durch die bequemen Erklärungen und Therapieversuche auf individueller Ebene genauso wie durch die pauschale Verurteilung der Arbeitsbedingungen, das eigentliche Problem verschleiert wird: Ein auf Konkurrenz geeichtes von dadurch mittlerweile hyperindividualisierten, einander und sich selbst zutiefst entfremdeten Narzissten betriebenes System steht vor seinem Kollaps. Der Burnout-Patient wird damit aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur „zum Seismographen dieser Fehlentwicklung.“ Das ist die aufrüttelnde Botschaft des ungemein wichtigen und überfälligen Buches „Die Burnout-Lüge“ von Martina Leibovici-Mühlberger (Amazon Affiliate Link).
Man braucht also nicht unbedingt im Rang eines Gesellschaftstheoretikers zu stehen, sondern es reicht bereits ein Quäntchen Hausverstand, um attestieren zu können, dass hier im Untergebälk, der Betriebskultur der Gesellschaft, etwas grob im Argen liegen muss, wenn eine derart große Zahl der Bevölkerung in einer tiefen Erschöpfungs,- Aushöhlungs- oder Sinnkrise steckt, obwohl doch nach der geltenden Glückstheorie gerade in unseren Breiten alles zum Besten stehen müsste.
Martina Leibovici-Mühlberger
Die Gynäkologin und Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychosomatik hebt sich mit ihrer Diagnose von den üblichen und nahe liegenden, aber zu kurz greifenden Erklärungen des Phänomens Burnout wohltuend ab. Weder der einzelne zunächst scheinbar erfolgreiche Mensch, der plötzlich sinnentleert und entfremdet aus der Rolle fällt noch die vielfach beklagten Arbeitsbedingungen der Beschleunigung und Verdichtung oder eine Kombination daraus seien der wahre Grund für das Phänomen Burnout. Vielmehr seien diese Versuche der Erklärung genauso praktisch wie bequem, weil sie das Problem draußen vor der Tür hielten. Ansonsten müsste man sich nämlich unbequemen Fragen stellen und an den falschen Grundwerten unseres Systems rütteln. Am Glücksversprechen des Kapitalismus, dass mehr Konsum und Besitz automatisch mehr Glück bedeutet, zum Beispiel.
Gerade jene die eigentlich mit besonderem Einsatz und Gehorsam, mit besonderer Aufopferung ihre Aufgaben erfüllten und damit dem Leitbild der Gesellschaft dank eines stark installierten Über-Ichs auch besonders gut entsprachen, wurden Opfer eines Burnout-Syndroms. Obwohl doch gerade sie dem gesellschaftlichen Konsens entsprechend die Einlösung ihres Glücksanspruchs erreichen hätten sollen, statt in Sinnlosigkeit und Aushöhlung zu versinken.
Martina Leibovici-Mühlberger
Dieses Versinken in Sinnlosigkeit und Aushöhlung illustriert die Autorin immer wieder in eindringlicher und beklemmender Weise in Form von Fallbeispielen ihrer Praxis. Es sind Menschen die nach gängigen Maßstäben äußerst erfolgreich waren, aber zunehmend nur unter Zuhilfenahme von Aufputsch- und Beruhigungsmitteln die Fassade aufrecht erhalten konnten bis zu ihrem vollständigen Zusammenbruch. Wenn also nicht auf individueller Ebene, wo liegen dann die eigentlichen Probleme unserer Gesellschaft, die so viele Menschen ausbrennen lassen?
Das System ist eine Folge kollektiver falscher Basisüberzeugungen, die den Menschen als angeblich instinkt- und triebgeleiteten Widersacher seiner selbst definieren. Als einen, der durch sein urinnerstes genetisches, umveränderbares Programm zu einer Konkurrenzfixierung, Machtakkumulation und damit zu einer ewig weiterwachsenden Steigerungsgesellschaft verurteilt ist.
Martina Leibovici-Mühlberger
In überzeugender Argumentation legt Martina Leibovici-Mühlberger dar, dass diese Ausrichtung auf Konkurrenz und Besitzstreben ein entwicklungsgeschichtlich recht junge Mode ist und keineswegs unserer Natur entspricht, sondern im Zuge der Sesshaftwerdung erst zivilisatorisch entwickelt hat. Unserer Natur nach seien wir Menschen nämlich keineswegs egoistisch, sondern kooperativ angelegt und hätten den weitaus längeren Teil unserer Entwicklungsgeschichte auch so gelebt, was die Funktionsweise unseres Belohnungszentrums im Gehirn erklärt, das nachweislich Verhaltensweisen wie Kooperation, Fairness, Teilen und wertschätzender sozialer Interaktion belohnt. „Nicht Aggression und Machtstreben sondern Intelligenz und Kooperation erwiesen sich letztendlich als das evolutionäre Erfolgsrezept“, fasst die Autorin zusammen. Tatsächlich ließe sich in Studien nachweisen, dass Glück und Gesundheit in einer Gesellschaft eindeutig in mit dem Maß an Verteilungsgerechtigkeit korrelierten. Umgekehrt erzeugte die Ausrichtung auf Konkurrenz und Machtstreben in letzter Konsequenz hochindividualisierte Narzissten, die als normaler Betriebsmodus beständig um sich selbst kreisten. „Wir stehen als Stars ohne solide Einbettung in ein soziales Gefüge da“, beschreibt die Autorin unseren Zustand.
Nachdem man als Gesellschaft und als Leser derart den Spiegel vorgehalten bekommt, fragt man sich natürlich: Was tun? Darauf hat die Autorin eine nur auf den ersten Blick einfach anmutende Antwort: Love, work, pray statt Entspannung und Ausgliederung aus der Arbeitswelt. Darunter versteht sie intensive zwischenmenschliche Beziehungen die dem Geist der Kooperation und des Teilens in sich tragen, Arbeit die uns erfüllt und Sinn bietet und schließlich Selbstreflexion und spirituelle Erfahrung im weitesten Sinne einer sinnvollen Einbettung in ein größeres Ganzes.
Fazit
In ihrem Buch „Die Burnout-Lüge“ (Amazon Affiliate Link) deutet Martina Leibovici-Mühlberger das Phänomen Burnout um als Indikator für eine Gesellschaft am Abgrund in einem Wirtschaftssystem, das noch im Untergang das Hohelied des ewigen Konkurrenzkampfes und ständigen Wachstums singt. In sehr bildreicher und griffiger Sprache einer Wiener Intellektuellen, die jedenfalls mir große Freude beim Lesen bereitete, übt die Autorin fundamentale Systemkritik und zeigt sehr deutlich wo das Problem liegt, wie wir damit umgehen und wie wir damit umgehen sollten. Ein sehr wichtiges und unbedingt lesenswertes Buch. Weniger ein Ratgeber, obwohl sich gerade im letzten Teil einige praktische Leitlinien finden, als vielmehr eine gelungene Gesellschaftskritik. Ein visionäres Buch zum Nachdenken.
Unsere heute vorliegende Burnout-Gesellschaft ist der auf die Eskalationsspitze getriebene Konflikt zwischen dem Primat des zivilisatorisch begründeten ökonomischen Prinzips und unserer biologischen Natur. Und immer mehr scheitern an der Verneinung des Menschlichen in uns – das nennt man dann Burnout.
Martina Leibovici-Mühlberger
Artikelbild: Lloyd Morgan bei flickr.com (CC BY-SA 2.0)
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