Was Projekte und insbesondere große IT-Projekte betrifft, gibt man sich allzu oft der Illusion der Planbarkeit hin. Die inhärente Komplexität von Vorhaben will man durch genaue Planung in den Griff bekkommen. Genaue Planung setzt aber voraus, dass die Zusammenhänge genau verstanden werden können, was gerade bei komplexen Vorhaben per Definition nicht der Fall ist. Was aber prinzipiell im Detail nicht planbar ist, wird sich nicht auf geradem Wege erreichen lassen. Fehlversuche oder wenigstens Abweichungen sind also kein Makel, sondern haben Methode.
Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts.
Søren Aabye Kierkegaard
Das was der Philosoph Kierkegaard in Bezug auf unser Leben feststellte, nämlich dass wir es nur rückwärts verstehen können und eben gerade nicht vorwärts planen können, trifft auf die meisten nicht-trivialen Projekte genauso zu. Was aber im Unternehmenskontext gerne ausgeblendet wird, weil doch schließlich Budgets und Menschen (im vorherrschenden Maschinen-Modell unserer Unternehmen gerne auch Ressourcen genannt) vorausschauend geplant werden müssen. Wo kämen wir denn sonst hin?
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
um einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.
Kurt Marti
Auch komplexe Projekte müssen vorwärts gelebt werden, verstehen lassen sie sich aber erst rückwärts. Der Weg zum Ziel kann kein gerader sein, sondern wird aus Fehlversuchen und Abweichungen bestehen. Agilität trägt genau dieser Einsicht Rechnung und gibt uns einen geordneten Rahmen für ein schrittweises Scheitern zum Erfolg. Abweichungen und Fehler als Chance zur Verbesserung zu begreifen und vielleicht sogar Wagemut zu belohnen, darin besteht der eigentliche Kulturwandel hin zu Agilität.
Success is stumbling from failure to failure with no loss of enthusiasm.
Winston Churchill
Komplexe Systeme entstehen emergent und nicht analytisch. Ein Facebook oder Twitter wie wir es heute kennen ist nicht das Ergebnis einer vorausschauenden Analyse und mehrjährigen Planung, es ist das Ergebnis von Versuch und Irrtum. Das ist kein Zufall, sondern der einzig mögliche Weg wie komplexe Systeme entstehen. Die grundsätzliche Unplanbarkeit dieser Emergenz sowie die unvermeidbaren Fehlversuche sind für Start-Ups ganz normal, in großen Industrieunternehmen aber ein Unding. Dort werden Null-Fehler und Geradlinigkeit immer noch mehr geschätzt und belohnt als Wagemut. Das Ergebnis ist dann aber bestenfalls Mittelmaß.
I have not failed. I’ve just found 10,000 ways that won’t work.
Thomas A. Edison
Das analytisch erdachte inkrementell umzusetzen ist nicht agil. In endgültigen und allumfassenden Lösungen zu denken ist nicht agil. Null-Fehler-Politik ist nicht agil. Agil bedeutet wendig. Wendigkeit macht aber nur Sinn in Zusammenhang mit Unsicherheit. Und Wendigkeit impliziert Abweichungen von einem kürzesten Weg zur Lösung, der allerdings nur rückblickend erkannt werden kann und somit nur in der Theorie exisitiert.
Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better
Samuel Beckett
4 Kommentare
Guten Morgen Marcus,
wieder einmal ein sehr schöner Post, genau auf den Punkt. Danke.
Einen Punkt teile ich jedoch nicht ganz so. Du schreibst: „Auch komplexe Projekte müssen vorwärts gelebt werden, verstehen lassen sie sich aber erst rückwärts.“
Ich glaube nicht, dass wir Komplexität im Nachgang verstehen. Warum?
Wir bauen uns für unsere Wahrnehmungen der Vergangenheit ein Ursache-Wirkungs-Modell auf, und erklären dann die Ereignisse gegen dieses Modell. Allerdings bleibt es ein Modell, gegen welches wir etwas erklären. Und Komplexität zeichnet sich ja eben u. a. genau dadurch aus, dass es nicht durch lineare Ursache-Wirkungszusammenhänge entsteht.
Dazu kommt dann auch noch erschwerend, dass wir auch für unsere Wahrnehmungen Modelle benötigen.
Alle aufgeschriebenen oder gezeichneten Modelle (System Dynamics, Agentenbasierte Modellierung, Causal-Loop-Diagrams etc.), die ich bislang kenne, sind durch unser lineares Denken entstanden und bleiben damit auch linear und nicht vernetzt. Hier habe ich dazu mehr geschrieben: http://blog-conny-dethloff.de/?p=2979
Beste Grüße in den Süden,
Conny
Vielen Dank für Deinen Kommentar, Conny! In der Tat sprichst Du da einen wichtigen Punkt an. Das was wir „Verstehen“ nennen in Bezug auf Komplexität ist wohl mehr ein nachträgliches Rationalisieren: Rückblickend macht der Weg zum Ziel dann in unserem Modell irgendwie Sinn. Das ist aber tatsächlich was anderes als ein objektives Verstehen.
Eine richtig tolle Beschreibung.
Fehler gehören einfach zum Leben und werden leider oft falsch interpretiert.
Liebe Grüße,
Jannik
Danke! Sehe ich genauso.