Müßiggang sei aller Laster Anfang, heißt es sprichwörtlich. In unserer hochvernetzten und stets arbeitsbereiten Industriegesellschaft mehr denn je. Nomen est omen: Nicht ohne Grund leitet sich Industrie von industria ab, dem lateinischen Wort für Fleiß. Müßiggang, Leerlauf oder gar Faulheit darf es nicht geben, höchstens Erholung oder Wellness – freilich nicht zum Selbstzweck, sondern nur um danach wieder fleißig oder sogar noch fleißiger arbeiten zu können. Andererseits hatte der Müßiggang seit der Antike immer wieder prominente Fürsprecher, Sokrates etwa sah in der Muße die „Schwester der Freiheit“.
Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: Der Hang zur Freude nennt sich bereits „Bedürfniss der Erholung“ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen. ‚Man ist es seiner Gesundheit schuldig‘ — so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heisst zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe.
Friedrich Nietzsche
Diese Befürchtung von Friedrich Nietzsche ist längst traurige Realität. Für das effiziente Gelingen dieser Erholung stehen vielfältige Angebote einer florierenden Freizeit- und Wellnessindustrie zur Verfügung. Damit rückt der Fleiß nicht nur sprachlich (Industrie!) dem Müßiggang auf den faulen Pelz. Leider. Auch die Faulheit hat nämlich durchaus einen Wert. Für Kurt von Hammerstein-Equord, am Ende der Weimarer Repuplik als Chef der Heeresleitung der mächtigste Soldat in Deutschland, war sie sogar entscheidend für die Qualifikation für höchste Führungsaufgaben:
Ich unterscheide vier Arten. Es gibt kluge, fleißige, dumme und faule Offiziere. Meist treffen zwei Eigenschaften zusammen. Die einen sind klug und fleißig, die müssen in den Generalstab. Die nächsten sind dumm und faul; sie machen in jeder Armee 90 % aus und sind für Routineaufgaben geeignet. Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit. Hüten muss man sich vor dem, der gleichzeitig dumm und fleißig ist; dem darf man keine Verantwortung übertragen, denn er wird immer nur Unheil anrichten.
Kurt von Hammerstein-Equord
Offenbar war hektischer Aktionismus schon damals ein Problem. Lieber schnell handeln als sich besinnen. Leider ist Besonnenheit heute weniger denn je förderlich für die Karriere. Gefragt sind Macher, keine zögerlichen Denker mit dem Hang zur Faulheit. Dabei kann Müßgigang durchaus produktiv sein, wenn er zum Nachdenken genutzt wird und zu mehr Klarheit und damit besseren Entscheidungen führt. Seinen Führungsstil beschreibt Kurt von Hammerstein-Equord dementsprechend:
Machen Sie sich frei von Kleinarbeit. Dazu halten Sie sich einige wenige kluge Leute. Lassen Sie sich aber viel Zeit, sich Gedanken zu machen und sich vor sich selbst ganz klar zu werden. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Gedanken ausgeführt werden. Nur so können Sie richtig führen.
Kurt von Hammerstein-Equord
Nicht immer ist die schnelle Entscheidung die bessere. Im Zusammenhang mit Lean bzw. Agile Software-Development plädieren Tom und Mary Poppendieck deshalb auch dafür mit wichtigen Design-Entscheidungen möglichst lange zu warten, bis zum sogenannten last responsible moment: „delay commitment until the last responsible moment, that is, the moment at which failing to make a decision eliminates an important alternative“. Das hätte Kurt von Hammerstein-Equord bestimmt sofort unterschrieben.
6 Kommentare
Marcus, ich danke Dir für Deine knappen, prägnanten Beiträge die mir (fast, sonst wäre es ja langweilig) immer direkt aus der Seele sprechen.
Man meint manchmal, die reine Bildschirmarbeit verführt zur gefühlten Macht über etwas, es würde sich ja schon von selber erledigen, drücke man nur oft genug auf einen der zahlreichen Buttons oder poste nur oft genug einen frommen Wunsch, so dass es doch ein Anderer mache. Dass ein Aufstehen und „wirkliches Doing“ noch mal einen echten Unterschied macht, merkt leider nur der, der es tut.
Vielen Dank! Am Ende steht bei aller Faulheit natürlich das Handeln, aber eben überlegt und nicht nur im Stile des üblichen hektischen Aktionismus.
Grüße Sie Herr Raitner, wieder einmal ein Genuss ihren Beitrag zu lesen. Über etwas muss ich allerdings noch nachdenken: wo trifft man die klugen und faulen? Vielleicht gar nicht in mittleren Regionen der Organisationshierarchie? Sind fürchte ich, eine scheue Spezies.
Mit besten Grüßen
Gerhard Petschat
Vielen Dank, Herr Petschat! Wo Sie diese Spezies in der Hierarchie finden hängt ganz davon ab, was in der jeweiligen Organisationskultur honoriert wird. Wo Fleiß, Anwesenheit und Hektik honoriert werden, werden die Klugen und Faulen nicht aufsteigen.
„Wie herrlich ist es, nichts zu tun, und dann vom Nichtstun auszuruhn.“
Heinrich Zille
Schöne Grüsse aus Osnabrück
Welch schönes Zitat. Vielen Dank dafür!