Ein ganz wesentliches Prinzip hinter dem Agilen Manifest ist das der Nachhaltigkeit. Gemeint ist damit das richtige Maß an Arbeitslast, so dass alle Beteiligten theoretisch in der Lage wären diese Geschwindigkeit auf unbestimmte Zeit beizubehalten. Ein treffendes Kriterium für ein gesundes Wirtschaften, wie ich finde. In der Praxis ist in vielen Unternehmen schon ganz allgemein jedes Maß abhanden gekommen, wie der einfache Blick in die übervollen Terminkalender zeigt. Im Hinblick auf Agilität ist dieser Aufruf zur sinnvollen Mäßigung aber besonders angebracht, ist doch der Wunsch schneller zu werden und Zeit aufzuholen die weitaus am meisten gehörte fatale Begründung für ein agiles Vorgehen.
Agile processes promote sustainable development. The sponsors, developers, and users should be able to maintain a constant pace indefinitely.
Principles behind the Agile Manifesto
Ganz unabhängig von Agilität sollte dieses Prinzip der Nachhaltigkeit eigentlich sofort und in genau dieser Definition Einzug in die Wertelandschaften unserer Organisationen finden. Zwar nicht offiziell beschrieben, dafür aber umso festerer Bestandteil der Kultur vieler Organisationen ist stattdessen leider der krankmachende Kult der Busyness. Beschäftigtsein wird mit Produktivität und Meetings werden mit Arbeit verwechselt. Ein voller und übervoller Terminkalender ist immer noch ein Zeichen von Status und Wichtigkeit.
Meetings are by definition a concession to a deficient organization. For one either meets or one works. One cannot do both at the same time.
Peter F. Drucker
Um der Arbeit trotz der Meetingflut Herr zu werden, missachten die meisten diese Erkenntnis von Peter Drucker freilich und suchen ihr Heil im Multitasking und arbeiten während der Meetings an ihren Laptops. Dabei zeigt die Hirnforschung eindeutig, dass das menschliche Gehirn nur fokussiert gut arbeitet und das gleichzeitige Bearbeiten von zwei nicht-trivialen Aufgaben mit erheblichem Verlust an Produktivität für den Kontextwechsel verbunden ist.
Multitasking heißt, viele Dinge auf einmal zu vermasseln.
Erwin Koch
Und wer kennt sie nicht, die hastig im Meeting verschickte E‑Mail mit dem viel zu großen Verteiler und unklarer Botschaft, die deswegen zu weiteren Meetings und E‑Mails führt. Ein entscheidender Aspekt von Agilität ist daher das fokussierte Arbeiten. Die Meetings und ihre Teilnehmer sind auf das wesentliche reduziert und dann auch so wertvoll, dass alle (physisch und psychisch) präsent sind. Die restliche Zeit wird genutzt, um fokussiert an einer vorher klar definierten Menge von Aufgaben zu arbeiten, die so gewählt wurden, dass die Nachhaltigkeit gewährleistet bleibt. Diese Fokussierung und nachhaltige Mäßigung anzustreben und zu beschützen ist eine ganz entscheidende Führungsaufgabe, die im Scrum einerseits dem Scrum-Master zufällt, aber andererseits mindestens genauso viel Aufgabe des Top-Managments ist, weil es hier kein richtiges Leben im falschen geben kann.
Alles über 85 Prozent Auslastung führt zu Chaos bis hin zu Katastrophen. Denn eine solch hohe Auslastung erzeugt durch Ärger und Prioritätenänderungen wegen wartender Notfälle neue Arbeit, sodass die Auslastung über 100 Prozent steigt und das System zusammenbrechen lässt.Gunter Dueck
Diese Schranke von 85 Prozent leitet Gunter Dueck in seinem Buch Schwarmdumm (Amazon Affiliate-Link) mathematisch von der sogenannten Warteschlangentheorie ab. Ein vernünftiger Mittelwert, der je nach Auswirkung von langen Wartezeiten (beispielsweise in der Notaufnahme oder der Feuerwehr oder auch nur bei wichtigen Entscheidern) noch nach unten korrigiert werden muss. Und wenn wider Erwarten nichts Unvorhergesehenes passiert, können die restlichen 15% sehr gut für die eigene Weiterbildung genutzt werden. Gerade in schnelllebigen Domänen wie der Softwareentwicklung ist das ein ganz entscheidender Aspekt von Nachhaltigkeit im Sinne der obigen Defintion, dass ein unbegrenztes Arbeiten in der Auslastung möglich sein soll.