Der erste Artikel dieser Reihe Prinzipien agiler Organisationen zeigte am Beispiel der niederländischen Pflegeorganisation Buurtzorg den durchschlagenden Erfolg des Prinzips der Kundenorientierung durch Dezentralisierung. Anstatt der üblichen tayloristisch-funktionalen Gliederung und der entsprechenden hierarchischen Struktur organisierte Jos de Blok Buurtzorg als Netzwerk von vollständig autonomen Teams mit allen Fähigkeiten und Kompetenzen, um einen regional abgegrenzten Bereich vollständig versorgen zu können. Die Art und Struktur der Arbeit einer Pflegeorganisation eignet sich dafür natürlich besonders gut, dennoch findet sich dieses Muster auch dort, wo man es weniger vermuten würde, beispielsweise beim französischen Druckgusshersteller FAVI. Auch dort arbeiten die etwa 500 Mitarbeiter in autonomen und in sich abgeschlossenen Mini-Fabriken mit 15 bis 35 Mitarbeitern, die jeweils einem Produkt oder einem Kunden fest zugeordnet sind. FAVI ist aber auch eines der wenigen Beispiele für die erfolgreiche Umgestaltung von einem klassisch-hierarchisch funktional gegliederten Industrieunternehmen in eine agile Organisation. Und genau dabei zeigt sich die Kraft eines weiteren Prinzips: Vertrauen statt Kontrolle.
I was aware that in order to become a responsive organization, decisions needed to be made by the workers themselves, directly on the production floor. I believe that a good employee is an employee that takes initiatives.
Jean François Zobrist
FAVI wurde 1957 gegründet und stellte anfangs Kupferteile für Wasserhähne her. Heute macht FAVI den überwiegenden Teil seines Umsatzes als Zulieferer für die Automobilindustrie, wo sie bei Getriebegabeln einen Marktanteil von über 50% haben – und das obwohl sie im Gegensatz zu allen ihren Konkurrenten nach wie vor in Europa fertigen statt die Produktion nach China zu verlagern. Als Jean-François Zobrist 1983 CEO wurde, waren die damals 80 Mitarbeiter von FAVI wie die meisten produzierenden Unternehmen strikt hierarchisch und funktional gegliedert organisiert: Die Arbeiter berichteten an einen chef d’equipe, der an einen chef d’atelier der wiederum an einen chef de service und der schließlich an einen chef de production, der seinerseits an den CEO berichtete. Neben diesem Produktionsbereich gab es wie üblich noch die unterstützenden Bereiche HR, Sales, Engineering, Planning, Maintenance und Finance. Innerhalb von zwei Jahren baute Zobrist FAVI komplett um, indem er (ähnlich Buurtzorg) sämtliche zentralisierten unterstützenden Bereiche auflöste und in die Mini-Fabriken verlagerte, die eben nicht nur produzieren, sondern auch selbst für Sales, Planning, Engineering, HR, etc. verantwortlich sind. Der Erfolg dieser Transformation war sehr beachtlich: Es gelang FAVI von 80 auf über 500 Mitarbeiter zu wachsen, weiterhin in Europa mit überdurchschnittlichen Löhnen profitabel zu produzieren, wo andere Zulieferer längst die Produktion nach Fernost verlagert hatten. (Quelle: Frederic Laloux, Reinventing Organizations. Amazon Affiliate Link).
We don’t tell people what to do anymore, but we lead. We don’t reward or reprimand, but we lead by example. We don’t control but we help the people to measure their own results.
Jean François Zobrist
Am Beispiel dieser Transformation von FAVI lässt sich aber noch etwas anderes beobachten und das ist die Kraft und der Wert von Vertrauen. Als Jean-François Zobrist das Ruder bei FAVI übernahm, gab es dort die üblichen Kontrollmechanismen und Machtinstrumente: Die Arbeitszeit wurde erfasst (und Abweichungen vom Soll sanktioniert), es gab ein Bonussystem (und Zahlungen hingen wesentlich vom Gutdünken des Chefs ab), Lager und Schränke waren verschlossen und es gab entsprechende Prozesse und Regeln. So beispielsweise die Regel, dass ein Arbeiter für ein neues Paar Handschuhe aus dem Lager seinem Vorgesetzten das alte Paar zeigen musste und dann von ihm eine Bestätigung erhielt um damit dann im verschlossenen Lager ein neues Paar ausgehändigt zu bekommen. Als Zobrist eines Tages in seiner ersten Zeit als CEO bei einem Rundgang in der Fabrik einen Arbeiter vor dem Lager derart wartend antraf rechnete er nach und fand heraus, dass dieser Arbeiter eine Maschine bediente, die 600 Franc pro Stunde, also 10 Franc pro Minute, kostete. Da der ganze Vorgang 10 Minuten dauerte, in denen die Maschine still stand, kosteten die Handschuhe im Wert von 5,80 Franc dem Unternehmen durch diesen Kontrollmechanismus zusätzliche 100 Franc! (Quelle: Corporate Rebels, Teil 1).
People always tend to act as they are considered. If we open the spaces of freedom, people will start developing themselves and they will set themselves ambitious targets.
Jean François Zobrist
Stark von Menschenbild von Douglas McGreggor geprägt, brachte Zobrist seinen Mitarbeitern in kleinen aber wirkungsvollen Gesten recht schnell Vertrauen entgegen. Beispielsweise schaffte er die Zeiterfassung und Produktionsziele komplett ab, öffnete alle Lager und Schränke, damit sich die Arbeiter ihre Arbeitsmaterialien einfach selbst entnehmen konnten, schaffte das Bonussystem ab und mauerte das große Fenster zu, von dem aus man als Manager die Produktionshalle überblicken konnte (vgl. Corporate Rebels, Teil 1). Obwohl er keinen Zweifel an der Kraft des Vertrauens hatte, gibt er offen zu, in den ersten Tagen nach der Abschaffung der Zeiterfassung die Produktivität intensiv im Auge gehabt zu haben. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass die Produktivität sogar stieg! Im alten System hatten die Arbeiter ihre Arbeitsgeschwindigkeit nämlich im Prozess der Vereinbarung von Produktionszielen künstlich verlangsamt, damit sie auf jeden Fall das Ziel erreichen und ihren Bonus nicht gefährden. Frei von diesen stündlichen Produktionszielen begannen die Arbeiter wieder in ihrem eigenen Rhythmus und der optimalen und höheren Geschwindigkeit zu arbeiten (Quelle: Frederic Laloux, Reinventing Organizations. Amazon Affiliate Link).
Leider sind diese goldenen Zeiten von FAVI wohl mittlerweile auch vorbei. Obwohl Zobrist seinen Nachfolger sehr sorgfältig von 2004 bis 2009 einarbeitete und dann noch bis 2014 beratend zur Seite stand, ging diese Kultur des Vertrauens anschließend wieder verloren durch den Druck eines neuen Mehrheitseigners, der mehr Ordnung in das „Chaos“ bringen wollte und nach und nach Freiheiten reduzierte und mehr Kontrolle einführte. Das Ergebnis spricht leider genauso deutliche Bände wie die positive Entwicklung von FAVI in den Jahren davor, wie Jean François Zobrist selbst zusammenfasst: „As a result the 20% net cash flow first dropped till 15%, then to 10%. And today only 5% is left. Surely, next year the net cash flow will be dropped till 0%. The more the net cash flow went down, the more the shareholders increased the control. Subsequently, the increased control led to unhappy workers leading to poor results. It’s a vicious circle. To me this is the prove that there is a direct relation between the happiness of productive people and the net cash flow. Happy workers make happy customers who make happy shareholders.“ (Quelle: Corporate Rebels, Teil 2)