Wenn Historiker in ein paar Jahrhunderten auf unsere Zeit zurückblicken, werden sie vermutlich nicht das Internet oder Technologie im Allgemeinen als die wichtigstes Veränderung betrachten, sondern die Tatsache, dass erstmals in der Geschichte eine große Zahl von Menschen Wahlmöglichkeiten hatten. Peter F. Drucker schließt diese Einsicht mit der etwas ernüchternden Feststellung, dass die meisten von uns diese Herausforderung völlig unvorbereitet trifft. Je mehr Möglichkeiten es gibt, desto schwerer wird die Entscheidung, weil jedes ‚Ja‘ automatisch viele ‚Nein‘ bedeutet. Darum ist ‚Nein‘ nicht nur das schwierigste, sondern auch das wichtigste Wort unserer Zeit, um den Fokus zu behalten auf persönlicher Ebene genauso wie in Organisationen.
Kernkompetenz Fokus
You can do anything, but not everything.
David Allen
Mit der Anzahl der Möglichkeiten steigt die Anzahl der Entscheidungen. So sehr, dass Psychologen mittlerweile von Entscheidungsmüdigkeit (decision fatigue) sprechen. Scheinbar hat der Mensch nur ein gewisses Kontingent an Entscheidungskraft, die sich im Laufe des Tages mit jeder Entscheidung erschöpft. Um dieses Kontingent für die wichtigen Entscheidungen zu reservieren, trug beispielsweise Steve Jobs fast immer eine Jeans und seinen schwarzen Rollkragenpullover. Und Barack Obama und Mark Zuckerberg halten es mit ihrer Garderobe aus denselben Gründen ähnlich. Ich kann dem viel abgewinnen, obwohl meine Frau standhaft behauptet, man könne T‑Shirts auch in anderen Farben als weiß kaufen.
You can please some of the people all of the time, you can please all of the people some of the time, but you can’t please all of the people all of the time.
John Lydgate
Schwieriger als die tägliche Garderobe sind Entscheidungen über die eigene Zukunft oder die der Organisation. Ganz besonders, weil sie fast immer auch andere Menschen betreffen. So wirkt ein nüchternes Nein in der Sache auch immer im Beziehungsgeflecht der Menschen und wird leicht als persönliche Ablehnung verstanden. Immer ‚Ja‘ zu sagen, um persönliche Konflikte zu vermeiden, ist aber auch keine Lösung, denn dadurch wird das Ja beliebig und entwertet.
Es scheint ein allgemein menschlicher Zug zu sein, dass wir nur dann aus voller Überzeugung Ja sagen können, wenn wir uns frei genug fühlen, auch Nein zu sagen.
Jesper Juul
Vor diesem Hintergrund der überbordenden Möglichkeiten und der damit einhergehenden Entscheidungen, wird Fokus immer mehr zur Kernkompetenz unserer Zeit. Und Fokus beginnt mit einem überzeugten Ja gefolgt von vielen genauso überzeugten und authentischen Nein, die das Ja vorher bekräftigen und deshalb mindestens so wichtig sind.
Das Wechselspiel von Überblick und Fokus
Steve Jobs wusste um den Wert der Fokussierung wie nur wenige andere und legendär ist die lebensrettende Reduktion des Produktportfolios bei Apple nach seiner Rückkehr dorthin: Eine Vier-Felder-Matrix mit Desktop und Portable auf der einen Achse und Consumer und Professional auf der anderen. Damit reduzierte er das heillos überbordende Portfolio bei Apple um rund 70% auf handliche vier Produktlinien. Weniger aber besser, wie das der von Steve Jobs sehr geschätzte deutsche Designer Dieter Rams formuliert hat.
People think focus means saying yes to the thing you’ve got to focus on. But that’s not what it means at all. It means saying no to the hundred other good ideas that there are. You have to pick carefully. I’m actually as proud of the things we haven’t done as the things I have done. Innovation is saying no to 1,000 things.
Steve Jobs
Die Effektivität von Agilität entsteht im Wechselspiel von Überblick und Fokus. Sowohl in Scrum als auch bei Kanban geht es darum, in kurzen Abständen auf Basis eines guten Überblicks Entscheidungen über die nächsten konkreten Schritte zu treffen und dann aber die Work in Progress zu begrenzen und sich dadurch knallhart zu fokussieren. Kanban kennt dazu explizite WIP-Limits und erst wenn ein Element fertig wird, darf das nächste nachgezogen werden – getreu dem Motto: Stop starting, start finishing. In Scrum fokussiert sich das Team durch das Sprint-Planning auf den Umfang des Sprints und hält diesen dann fest bis zum Sprint-Review.
If it isn’t a clear yes, then it’s a clear no.
Greg McKeown
Damit dieses Wechselspiel gut gelingt braucht es Disziplin und einen Product-Owner vom Schlage eines Steve Jobs, der als CEO des Produkts überzeugt und authentisch Nein sagen kann (und darf). Nein zu vielen guten Ideen, die jetzt aber nicht passen. Nein zu vielen Anspruchsberechtigten, die alle gute Gründe für ihre Lieblingsfeatures und nicht selten auch viel Macht haben. Und manchmal auch Nein zu sich selbst, um nicht zu vieles gleichzeitig zu beginnen.