Die modernen Hofnarren

Ursprüng­lich waren Hof­nar­ren kei­ne Unter­hal­ter oder Spaß­ma­cher, son­dern erns­te Figu­ren. Sie hat­ten eine wich­ti­ge Auf­ga­be und und waren fes­ter Bestand­teil des Hof­staats. Durch ihre Narr­heit waren sie aller­dings von den gesell­schaft­li­chen Nor­men ent­bun­den und konn­ten so auf mehr oder weni­ger sub­ti­le und wit­zi­ge Wei­se Miss­stän­de und (reli­giö­se) Ver­feh­lun­gen zur Spra­che brin­gen und so die Mäch­ti­gen zum Nach­den­ken und Umden­ken anre­gen. Durch die­se „Nar­ren­frei­heit“ waren sie „eine sozia­le Insti­tu­ti­on zuläs­si­ger Kri­tik.“ (Wiki­pe­dia) Die Gewal­ten­tei­lung in agi­len Orga­ni­sa­tio­nen bedeu­tet in letz­ter Kon­se­quenz auch eine Renais­sance die­ser ehr­wür­di­gen sozia­len Insti­tu­ti­on des Hof­nar­ren in Form der Rol­le des Scrum Masters.

Auch der Scrum Mas­ter ist viel mehr als ein Spaß­ma­cher, obwohl die Freu­de am Arbei­ten im Sin­ne der Nach­hal­tig­keit auch nicht zu kurz kom­men darf. Der Scrum Gui­de defi­niert ihn als Ser­vant Lea­der, der dem Team einer­seits, aber ande­rer­seits eben auch der umge­ben­den Orga­ni­sa­ti­on dabei hilft, Pro­zes­se, Arbeits­wei­se und Kul­tur zu reflek­tie­ren und zu ver­bes­sern. Er ist weni­ger Mana­ger, Leh­rer oder Beschüt­zer für das Team, son­dern eher Coach, Sys­tem­den­ker und Organisationsentwickler. 

Das Gan­ze ist mehr als die Sum­me sei­ner Teile.

Aris­to­te­les

Der Scrum Mas­ter rich­tet sein Augen­merk zwar auf die Wirk­sam­keit sei­nes Teams, ist sich aber der sys­te­mi­schen Zusam­men­hän­ge, in die die­ses ein­ge­bet­tet ist sehr wohl bewusst. Kein Team ist eine Insel und viel der Wirk­sam­keit eines Teams hängt von sei­nen Inter­ak­tio­nen mit ande­ren Teams und dem Rest der Orga­ni­sa­ti­on und deren Kul­tur ab. Der Scrum Mas­ter muss also auch der Orga­ni­sa­ti­on und den dar­in wir­ken­den Mäch­ten den Spie­gel vor­hal­ten kön­nen und den Fin­ger in die Wun­de legen dür­fen, um sein Team effek­ti­ver zu machen. Und das kann er nur, wenn er ein Stück Nar­ren­frei­heit genießt.

Pro­blems that ari­se in orga­ni­sa­ti­ons are almost always the pro­duct of inter­ac­tions of parts, never the action of a sin­gle part. Com­plex pro­blems do not have simp­le solutions.

Rus­sel Ackoff

Die­se Frei­heit lässt sich orga­ni­sa­to­risch im Sin­ne der schon ange­spro­che­nen Gewal­ten­tei­lung för­dern, indem die Scrum Mas­ter bewusst außer­halb der rest­li­chen Hier­ar­chie plat­ziert wer­den. Ein Scrum Mas­ter der den­sel­ben Chef hat wie sein Team und die­ser Chef viel­leicht sogar noch der Pro­duct Owner ist wird es (je nach per­sön­li­chem Hang zum Rebel­len­tum) eher schwer haben, der Orga­ni­sa­ti­on und den Macht­ha­bern den Spie­gel vor­zu­hal­ten. Hier hilft es die­se moder­nen Hof­nar­ren wie ihre mit­tel­al­ter­li­chen Vor­bil­der außer­halb der rest­li­chen Rang­ord­nung nahe beim „König“ anzusiedeln. 

Every sys­tem is per­fect­ly desi­gned to get the results it gets.

W. Edwards Deming

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

6 Kommentare

Hal­lo Marcus, 

dan­ke für den schö­nen Ver­gleich mit dem Hof­nar­ren. Ich fin­de die Aus­sa­ge: „Er ist weni­ger Mana­ger, Leh­rer oder Beschüt­zer für das Team, son­dern eher Coach, Sys­tem­den­ker und Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­ler. “ als abso­lut wich­tig, für ein funk­tio­nie­ren­de agi­le Organisation.

Ich sehe in mei­nem Pro­jekt, das bei die­sem, der Hof­narr nicht nah genug am „König“ ange­sie­delt ist und wir im Manage­ment Team zu stark auf die Pro­duct Owner fokus­siert sind. 

Vie­le Grüße,
TOm

Lie­ber Marcus, 

dan­ke für den „Hofnarr“-Impuls. Ein schö­nes Bild, das die Rol­le zwi­schen „Fluß-Ermög­li­cher“ und „Sys­tem-Irri­tie­rer“ anschau­lich macht. Tat­säch­lich ist die Vor­aus­set­zung für erfolg­rei­che Trans­for­ma­ti­ons-Nar­re­tei die schüt­zen­de Hand des­sen, der die for­ma­le Macht hat. 

Gun­ter „Wild“ Dueck erzähl­te das mal schön in einem Pod­cast: Da frag­te der welt­wei­te IBM-Boss den Euro­pa-Chef, was man denn mit einem sol­chen Hof­nar­ren wie Dueck anfan­gen soll­te. Die wei­se Ant­wort des Euro­pa-Chefs (damals war Dueck immer­hin CTO von IBM): „Ach, wis­sen Sie, ich habe 70.000 Mit­ar­bei­ter, da muss man einen sol­chen Stö­rer schon mal aushalten.“

Mei­ne Fol­ge­rung: Trans­for­ma­ti­on muss zwar mit den Men­schen gesche­hen, aber wirk­li­che Ver­än­de­rung wird es nur geben, wenn wir genug for­mal Mäch­ti­ge zu einer sol­chen Hal­tung bewe­gen. Und die­se beinhal­tet auch den Ver­zicht auf bzw. die Abga­be von for­ma­ler Macht. 

Wäre doch wun­der­bar, wenn der Hof­narr neben sei­ner „posi­tiv-irri­tie­ren­den“ Funk­ti­on auch noch so ori­gi­nell, humor­voll und mensch­lich sein könn­te, wie Gun­ter Dueck das heu­te als Busi­ness-Phi­lo­soph (aka frei­schaf­fen­der Narr) ist.

Vie­le Grü­ße – und hof­fent­lich bald mal per­sön­lich, z.B. bei einer Kon­fe­renz wie der re;publica oder dem Path­fin­der Festival.

FSt/Florian Städt­ler

Lie­ber Florian, 

dan­ke für die­se schö­ne Geschich­te von Gun­ter Dueck, den ich tat­säch­lich auch sehr schät­ze. Ich tei­le dei­ne Mei­nung, dass es Füh­rungs­kräf­te wie eben den Euro­pa-Chef von IBM braucht, die sich ganz bewusst einen „Nar­ren“ oder „Rebel­len“ hal­ten. Das zeugt von einer gro­ßen Rei­fe, die lei­der noch nicht jeder Mäch­ti­ge hat. Zum Glück bin ich mit ähn­li­chen Füh­rungs­kräf­ten geseg­net. Ich hal­te die Rol­le des Rebel­len / Nar­ren für aus­schlag­ge­bend für die Trans­for­ma­ti­on, denn Ver­än­de­rung braucht Stö­rung … und Füh­rungs­kräf­te, die das aushalten.

Bist du viel­leicht auch bei einer die­ser Kon­fe­ren­zen hier?

Hal­lo Ihr Lieben,

ich weiß nicht, wie das mit der Füh­rung genau funk­tio­niert. Aber mei­ne liebs­ten Men­to­ren sagen Din­ge wie: ‚Nicht wer Macht hat, son­dern wem frei­wil­lig gefolgt wird, führt.“ Oder eben auch kon­kret über mich ‚Was Du machst, nennt man late­ra­le Führung.‘

Ent­schei­dend sind für mich gute Geschich­ten, wo die Ein­zel­tei­le jeder kennt und glaubt. Die im Ein­zel­nen ‚wit­zig, aber nicht wei­ter schlimm sind.‘ Die tat­säch­li­che Glaub­wür­dig­keit erhal­ten sie erst durch kon­kre­te Bei­spie­le. Die Wucht ent­steht erst aus ihrer Kom­bi­na­ti­on. Und tat­säch­li­che Ver­än­de­run­gen ent­ste­hen nur durch das Auf­zei­gen einer ande­ren, ver­meint­lich bes­se­ren Welt.

Der Narr, oder als alter Möll­ner auch Till Eulen­spie­gel, sind da sehr schö­ne Bil­der. Der Orga­ni­sa­ti­on einen ste­ti­gen Spie­gel vorzuhalten.

Und auch wenn ich das guten Gewis­sens so schrei­be, so muss ich auch ein­ge­ste­hen, dass noch kei­ner mei­ner Impul­se jemals auch nur annä­hernd so umge­setzt wur­de, wie von mir (sehr idea­lis­tisch) skizziert.

Und doch gibt es unzäh­li­ge Bei­spie­le, wie krea­ti­ve, aber noch glaub­wür­di­ge Geschich­ten, uralte Denk­mus­ter zum enor­men Wan­ken brach­ten. Es brauch­te aber immer zusätz­li­che Men­schen, die die Ideen auf­grif­fen, zu ihren eige­nen Geschich­ten mach­ten und dabei das theo­re­tisch Bes­te mit dem prak­tisch Prag­ma­ti­schen ver­ban­den und so zum Leben erweckten.

Ver­än­de­rung bedeu­tet immer, dass das Bestehen­de hin­ter­fragt wer­den muss und durch Adap­ti­on zu einer ver­träg­li­chen, eige­nen Geschich­te des Sys­tems wird. Die Orga­ni­sa­ti­on muss die Geschich­te über­neh­men. Das gehört ein­fach zur Ver­än­de­rung dazu. 

Und es ist sel­ten der Geschich­ten­er­zäh­ler, der am Ende der tat­säch­li­che Ver­än­de­rer ist. Und dabei ist es fast uner­heb­lich, auf wel­cher Hier­ar­chie-Stu­fe die­ser ‚Rebell‘ agiert. 

Rebell ist schließ­lich kein Eti­kett, son­dern nur eine Zustands­be­schrei­bung gegen­über dem vor­herr­schen­den System. 

Und auch wenn ich noch kein Wild-Duck bin, so ist er doch auch mein gro­ßes Vor­bild: Wenn wir ein Pro­blem erken­nen, so ist es unse­re Pflicht ggü. der Orga­ni­sa­ti­on die Pro­ble­me zu benen­nen und eine Alter­na­ti­ve auf­zu­zei­gen. Man muss die Regeln und das Sys­tem ver­ste­hen, um es ver­än­dern zu können.

Mein Lieb­lings-Ex-Chef sag­te über mich: ‚Mehr als einen Alper Aslan hät­te unse­re Fir­ma nicht ver­kraf­tet, aber ich bin sehr froh, dass wir genau einen haben.‘

Und eigent­lich woll­te ich nur sagen, dass Ver­än­de­rung in jedem Mit­ar­bei­ter steckt. Aber zu vie­le ver­ste­cken sich hin­ter Titeln, for­ma­ler Macht und ver­meint­li­cher Hilflosigkeit.

Nicht so mit den Hofnarren.

Lie­be Grüße
Alper

Lie­ber Alper, vie­len Dank für die­sen lesens­wer­ten Kom­men­tar. Ich fin­de es schön zu sehen, dass auch du (so wie ich) mit weit­sich­ti­gen Füh­rungs­kräf­ten geseg­net bist, die sich bewusst Rebel­len leis­ten und die Stö­rung als wich­ti­gen Bei­trag zur Ver­än­de­rung sehen. Ich bin ganz dei­ner Mei­nung, dass in jedem Mit­ar­bei­ter Ver­än­de­rung ste­cken muss und es die Auf­ga­be von Füh­rung ist die­se in jedem zu wecken. Ansons­ten bleibt nur Dienst nach Vor­schrift, aber den wer­den wir in Zei­ten wie die­sen nicht mehr lan­ge überleben …

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