Agilität steht und fällt mit dem in der Organisation vorherrschenden Menschenbild. Wo Menschen grundsätzlich misstraut wird und wo folglich die Auffassung vorherrscht, dass Menschen zur Leistung motiviert werden müssen, gedeiht keine Agilität, sondern nur Angst, Cargo-Kult und Etikettenschwindel. Das Problem sind nicht die Menschen, sondern demotivierende und entmenschlichende Strukturen und Prozesse.
Bei Agilität geht es um „Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge“, wie es im agilen Manifest gleich zum Auftakt heißt. Der Auftrag aus den Prinzipien hinter dem Manifest lautet entsprechend unmissverständlich: „Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.“ Ich halte das für ein schönes Grundprinzip zum Aufbau menschenwürdiger Organisationen im Zeitalter der Wissensarbeit.
Agilität beruht eindeutig auf dem Menschenbild der Theorie Y, also der Annahme, dass Menschen prinzipiell intrinsisch motiviert und leistungsbereit sind. Douglas McGregor beschrieb diese bereits 1960 in seinem viel zu wenig beachteten Buch „The Human Side of Enterprise“ als Gegenentwurf zur bis dahin unhinterfragt angenommenen Theorie X, wonach der Mensch prinzipiell faul ist, Arbeit vermeidet, wo es geht, und daher fortwährend kontrolliert und motiviert werden muss.
Im Kontext von entmenschlichender Fließbandarbeit, von der Frederick Winslow Taylor selbst sagte, dass sie ein dressierter Affe auch machen könnte, mag diese Beobachtung sogar zutreffend gewesen sein. Die Erklärung, dass der Mensch prinzipiell so sei, ist aber sicher nicht zutreffend. Die einzig zulässige Schlussfolgerung ist, dass sich Menschen im Kontext der Organisation so verhalten. Nicht der Mensch hat also ein Defizit, sondern die Organisation, weil sie es Menschen nicht ermöglicht, sich motiviert einzubringen und zu entfalten.
Sehr ernüchternd zeigt das der Gallup Engagement Index Jahr für Jahr. Auch 2018 machten in deutschen Unternehmen 71% „Dienst nach Vorschrift“, 14% hatten sogar innerlich gekündigt und nur 15% waren wirklich mit Herz und Seele bei der Arbeit. Das als Bestätigung der Theorie X zu lesen, wäre jedoch ein fataler Trugschluss. Es zeigt sich lediglich, dass die Art und Weise, wie Organisationen heute aufgebaut sind, Menschen demotivieren. Oder anders gesagt: Wer Organisationen wie Maschinen baut und Menschen wie Zahnrädchen darin einsetzt (und verschleißt), kann nur Dienst nach Vorschrift erwarten. Da hilft auch keine Motivation und da helfen auch keine finanziellen Anreize (die im Übrigen nachweislich sogar schaden). Das Problem sitzt tiefer (oder höher?).
The answer to the question managers so often ask of behavioral scientists „How do you motivate people?“ is, „You don’t.“
Douglas McGregor
Agilität bedeutet in erster Linie die Arbeit am System und an diesen entwürdigenden Bedingungen. Der Fokus wechselt von Rollen (Zahnrädchen) und Prozessen (Maschine) kontrolliert von einem Manager hin zur selbstorganisierten Teamarbeit mit einer Ende-zu-Ende Verantwortung für ein hoffentlich motivierendes Produkt. Das schafft Identifikation und bietet dem Einzelnen mehr Raum, sich selbst mit seinen Fähigkeiten besser einzubringen und zu entfalten. Wer es ernst meint mit Agilität, muss daher insbesondere mit dem vorherrschenden Menschenbild der Theorie X, also des prinzipiell arbeitsscheuen Menschen, der motiviert werden muss, aufräumen. Eine wunderbare Leitlinie dazu liefert die oberste Direktive (prime directive) von Norman L. Kerth, die eigentlich jedes Büro und jeden Besprechungsraum zieren sollte:
Regardless of what we discover, we must understand and truly believe that everyone did the best job they could, given what they knew at the time, their skills and abilities, the resources available, and the situation at hand.
Norman L. Kerth, Project Retrospectives: A Handbook for Team Review
6 Kommentare
Lieber Marcus,
vielen Dank für Deinen Impuls. Es klingt so einfach und ist dennoch so schwer umzusetzen. Viele Menschen fühlen und wollen genau das. Es lohnt sich dran zu bleiben.
Viele Grüße
Falk
Vielen Dank, Falk. Klingt in der Tat einfacher als es ist. Insbesondere dann, wenn man anders sozialisiert wurde … Und ja, es lohnt sich dran zu bleiben; allein schon wegen dem Potential, das in den 71% schlummert, die Dienst nach Vorschrift machen.
Lieber Markus, ich glaube leider nicht an „entweder/oder“. Ich denke, dass ein Team Menschen mit ubterschiedliche Persönlichkeiten, Erfahrungen und Bedürfnisse bündelt. Die Führungskraft soll das Team aber auch jedem Einzel führen. Eine Führungskraft kann nicht Mitarbeiter*innen motivieren, aber kann die intrinsische motivation anzuregen. Warum ist eine Führungskraft, Führungskräft geworden?
Vielen Dank für den interessanten Input. VG, Verónica
Liebe Verónica, mir ging es auch nicht um Gleichförmigkeit. Auch ich halte die Vielfalt für entscheidend für eine gute Teamleistung. Deshalb heißt es ja im Manifest für menschliche Führung: „Diversität und Dissens mehr als Konformität und Konsens“. Selbstverständlich sind Menschen unterschiedlich und auch unterschiedlich in ihren Wünschen und in ihrer Motivation. Nur weigere ich mich ein Menschenbild zu akzeptieren, das Menschen als unmotiviert sieht, weil das sind sie sicherlich nicht. Sonst wären wir alle nicht überlebensfähig. Ich halte es da lieber mit Goethe
Das hört sich in der Tat einfacher an als es ist. Es muss ein Umdenken bei Mitarbeiter/innen und Managern stattfinden. Wie ist das mit der Firmenstrategie? Bisher wird sie Top Down herunter gebrochen. Dazwischen sind verschiedene Hierarchiestufen, in denen sie weiter herunter gebrochen wird, bis sie dann bei mir ankommt. Wie funktioniert das, wenn man nur Projektteams hätte (in einem Unternehmen 50.000+)? In der Administration, denke ich, ist das gar nicht umsetzbar. Oder doch?
Agilität im großen Stil funktioniert letztlich nur mit einer netzwerkartigen Topologie des Unternehmen, sprich lose gekoppelte, aber für sich autonom agierenden Einheiten.