Wer A sagt muss auch B sagen und andere falsche Dichotomien

Der Begriff Dicho­to­mie geht auf das grie­chi­sche dicho­tomía (διχοτομία) zurück und bedeu­tet Zwei­tei­lung. Eine fal­sche Dicho­to­mie ist die Sug­ges­ti­on, dass es zu einer Streit­fra­ge nur zwei sich gegen­sei­tig aus­schlie­ßen­de Alter­na­ti­ven gäbe, obwohl tat­säch­lich wei­te­re vor­han­den sind oder sich die bei­den ange­bo­te­nen Alter­na­ti­ven gar nicht wider­spre­chen oder aus­schlie­ßen. Beliebt ist die­ser rhe­to­ri­sche Trick bei Ver­käu­fern etwa in Form der Fra­ge, ob man lie­ber das blaue oder das wei­ße Hemd kau­fen möch­te, was die drit­te Alter­na­ti­ve, näm­lich kei­nes der bei­den zu kau­fen, ganz bewusst unter­schlägt. Und auch ich ver­wen­de das Mus­ter gele­gent­lich, um mei­nen Töch­tern die Klei­der­wahl zu „erleich­tern“, was sie natür­lich meist durchschauen.

Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erken­nen, dass A falsch war.

Ber­tolt Brecht

Es sagt sich so leicht: Wer A sagt, muss auch B sagen. Es gibt also schein­bar nur die Mög­lich­keit A zu sagen (und muss dann B sagen) oder eben nicht A zu sagen. Ber­tolt Brecht weist zu Recht auf die­se fal­sche Dicho­to­mie hin, denn man muss den mit A ein­ge­schla­ge­nen Weg nicht um jeden Preis wei­ter­ge­hen, son­dern man kann auch erken­nen, dass A ein Irr­weg war und dann umkeh­ren. Sofern man in der Lage ist, die kogni­ti­ve Ver­zer­rung der ver­sun­ke­nen Kos­ten zu über­win­den und man sich durch die­se fal­sche Dicho­to­mie nicht in ein soge­nann­tes eska­lie­ren­des Com­mit­ment trei­ben lässt, wo wei­te­re Inves­ti­tio­nen mit den schon getä­tig­ten (ver­sun­ke­nen) begrün­det werden.

Etwas kon­kre­ter, aber auch schwe­rer als fal­sches Dilem­ma zu erken­nen sind Aus­sa­gen wie die­se: „Es wird viel über Sinn oder Pur­po­se von Unter­neh­men dis­ku­tiert. Am Ende geht es immer dar­um, Geld ver­die­nen.“ Hier wird ein Wider­spruch zwi­schen Pur­po­se und Pro­fit ange­nom­men, den es so gar nicht gibt. Tat­säch­lich ist der rich­ti­ge Pur­po­se, also der Zweck, den die Orga­ni­sa­ti­on für ihre Kun­den und die Gesell­schaft erfüllt, Vor­aus­set­zung für Pro­fit. Pro­fit ist kein Selbst­zweck oder der vor­ran­gi­ge Zweck, wie die Aus­sa­ge unter­stellt, son­dern Fol­ge von und Indi­ka­tor für den rich­tig gewähl­ten Zweck:

Pro­fit is not the expl­ana­ti­on, cau­se, or ratio­na­le of busi­ness beha­vi­or and busi­ness decis­i­ons, but rather the test of their validity.

Peter F. Drucker

Auch die Welt der Agi­li­tät ist voll von fal­schen und teils falsch ver­stan­de­nen Dicho­to­mien. Es beginnt beim Mani­fest für agi­le Soft­ware­ent­wick­lung. Dort liest man The­sen wie „Funk­tio­nie­ren­de Soft­ware mehr als umfas­sen­de Doku­men­ta­ti­on“, die bewusst nicht als Dicho­to­mien (mit „statt“) for­mu­liert sind, aber gern als sol­che ver­stan­den wer­den. Es geht also nicht dar­um, sich nur auf funk­tio­nie­ren­de Soft­ware zu kon­zen­trie­ren und kei­ner­lei Doku­men­ta­ti­on zu erstel­len. Die The­se spannt bewusst ein Kon­ti­nu­um auf und macht dann eine Aus­sa­ge zur Ten­denz: „Das heißt, obwohl wir die Wer­te auf der rech­ten Sei­te wich­tig fin­den, schät­zen wir die Wer­te auf der lin­ken Sei­te höher ein. Für das Mani­fest für mensch­li­che Füh­rung gilt das übri­gens genau­so. Dort meint zum Bei­spiel „Ent­fal­tung mensch­li­chen Poten­ti­als mehr als Ein­satz mensch­li­che Res­sour­cen“ auch eine Band­brei­te mit Ten­denz zum ers­ten Teil. 

Weg von die­ser falsch ver­stan­de­nen Dicho­to­mie hin zu einer ech­ten fal­schen Dicho­to­mie. Ein Klas­si­ker ist die Behaup­tung, dass Agi­li­tät und Sta­bi­li­tät bzw. Qua­li­tät sich aus­schlie­ßen. So als wür­de agi­le Soft­ware­ent­wick­lung bedeu­ten, sich von Beta-Ver­si­on zu Beta-Ver­si­on han­geln. Klingt ja zunächst auch ein­leuch­tend, dass häu­fi­ge Ände­run­gen auch zu vie­len Feh­lern und Insta­bi­li­tät füh­ren. Ins­be­son­de­re dann wenn man bis­her durch gro­ße und feh­ler­träch­ti­ge Soft­ware-Releases geplagt und leid­ge­prüft war. Tat­säch­lich ist es aber eher so, dass durch häu­fi­ge­re Lie­fe­run­gen bis hin zu kon­ti­nu­ier­li­cher Inte­gra­ti­on und kon­ti­nu­ier­li­cher Aus­lie­fe­rung und die damit ein­her­ge­hen­de hohe Auto­ma­ti­sie­rung weni­ger Feh­ler auf­tre­ten, die­se frü­her ent­deckt wer­den und selbst nach Aus­lie­fe­rung schnel­ler beho­ben werden.

Sei also wach­sam, wenn das nächs­te Mal jemand dar­auf besteht, etwas „rich­tig oder gar nicht zu machen“ oder dir erklärt, dass der der „Feind dei­nes Fein­des dein Freund“ ist oder in irgend­ei­ner ande­ren Form zwei Alter­na­ti­ven anbie­tet. Mei­ne Töch­ter sind jeden­falls sehr wach­sam, wenn ich der­art mal wie­der die Klei­der­wahl beschleu­ni­gen will. 



Share This Post

3 Kommentare

Bettina Stackelberg 4. Juli 2019 Antworten

Guten Mor­gen, Marcus!

UND statt ODER, unend­lich vie­le Abstu­fun­gen statt Schwarz oder Weiß – Du sprichst mir aus dem Herzen.

Dazu ein Aspekt, der aus der Sys­te­mi­schen Auf­stel­lungs­ar­beit kommt: Mat­thi­as Var­ga von Kibéd, einer mei­ner „Auf­stel­lungs-Gurus“ hat die sog. TETRALEMMA Auf­stel­lung ent­wi­ckelt. Men­schen, die im typi­schen DIlem­ma (also zwei Optio­nen) ste­cken – soll ich kün­di­gen oder nicht, soll ich umzie­hen oder nicht, soll ich mich tren­nen oder nicht, ten­die­ren meist zu Pro-und-Con­tra-Lis­ten. Die tun uns oft nicht den Gefal­len, ein­deu­tig genug zu sein, um eine Ent­schei­dung zu treffen. 

TETRA­lem­ma (also vier) Auf­stel­lung kann da hel­fen. Wenn wir davon aus­ge­hen, dass die eine oder ande­re Mög­lich­keit bestimm­te Qua­li­tä­ten, Aspek­te, Facet­ten hat, die uns anzie­hen, kön­nen wir unse­re Per­spek­ti­ve erweitern:
Die vier Reprä­sen­tan­ten in die­ser Auf­stel­lungs­form sind
DAS EINE
DAS ANDERE
BEIDES
KEINES von Beiden
Und wenn man sehr ver­rückt ist, gibts noch die 5.Position, den Joker, das freie Ele­ment, DIES NICHT UND AUCH DAS NICHT.
https://www.coaching-magazin.de/tools-methoden/das-tetralemma

Gene­rell im Coa­ching, wenn Kli­en­ten mit „soll ich … oder nicht“ kom­men, springt bei mir sofort die auto­ma­ti­sche Fra­ge an „was ist die 3. oder 4. oder 5.Alternative?“ Blick­win­kel erwei­tern, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven finden.

Dan­ke für dei­nen Impuls,
herz­lichst, Bettina

Eberhard 4. Juli 2019 Antworten

Hal­lo Marcus, 

100% Zustim­mung, nur zwei Anmerkungen.

Ich den­ke, dass in Zei­ten des SEO man­che Dicho­to­mie nur her­bei gere­det wird um irgend­et­was bes­ser ver­mark­ten zu können.

Zwei­te Anmer­kung – mög­li­cher­wei­se lässt sich die Klei­der­wahl von Töch­tern über­haupt nicht beschleunigen ;-)

LG Eber­hard

Christine Radomsky 4. Juli 2019 Antworten

Was fal­sche Dicho­to­mien so ver­lo­ckend macht, ist ihr „Ver­spre­chen“, kom­ple­xen Pro­ble­men mit ein­fa­chen Lösun­gen zu begeg­nen. Die Welt erscheint uns dann über­schau­ba­rer und beherrsch­ba­rer. Damit mei­ne ich nicht das – je nach Sicht ein­fa­che oder kom­pli­zier­te – Pro­blem, wel­che ihrer N Klei­dungs­stü­cke dei­ne Töch­ter heu­te anzie­hen möch­ten, son­dern den­ke an kom­ple­xe The­men, die uns eini­ge Medi­en gern als Dicho­to­mien anbie­ten. Bei­spiels­wei­se wird die Künst­li­che Intel­li­genz ent­we­der als DER Weg in eine hel­le Zukunft dar­ge­stellt (Wohl­stand und ewi­ges Leben für alle, Lösung der Kli­ma­kri­se inbe­grif­fen) – oder als etwas ganz Böses, das das Indi­vi­du­um unter­jocht und sogar die Exis­tenz der Mensch­heit bedroht. Dabei kön­nen wir wohl kaum vor­aus­se­hen, ob sich eher die Chan­cen oder die Risi­ken der KI durch­set­zen wer­den. Aller­dings kön­nen wir heu­te etwas dafür tun, die Zukunft mit­zu­ge­stal­ten, indem wir auch auf die­sem Feld die Men­schen in den Mit­tel­punkt stel­len. Dan­ke für die Erin­ne­rung dar­an, dass vie­le schein­ba­re Dicho­to­mien bei nähe­rer Betrach­tung meh­re­re Lösungs-Alter­na­ti­ven haben oder sich sogar ent­lang eines Kon­ti­nu­ums abspielen.

Schreibe einen Kommentar