Wider die Überregelung des Miteinander

Weni­ger, aber bes­ser. Die­se Leit­li­nie des berühm­ten deut­schen Desi­gners Die­ter Rams soll­te uns nicht nur in der Gestal­tung von Pro­duk­ten lei­ten, son­dern auch in der Gestal­tung unse­rer Zusam­men­ar­beit. Das Mit­ein­an­der in gro­ßen Orga­ni­sa­tio­nen ist in den aller­meis­ten Fäl­len über­re­gu­liert und die Men­schen in die­sen Orga­ni­sa­tio­nen über­be­hü­tet. Die damit ein­her­ge­hen­de Sta­bi­li­tät und Sicher­heit in Ehren, aber Eigen­in­itia­ti­ve, Krea­ti­vi­tät und Höchst­leis­tung ersti­cken an die­sem Über­maß an Regeln. Frei nach Antoine de Saint-Exupé­ry ist die Zusam­men­ar­beit erst dann per­fekt gere­gelt, wenn nichts mehr weg­ge­las­sen wer­den kann. Ein Plä­doy­er gegen die ent­mün­di­gen­de und demü­ti­gen­de Über­re­ge­lung des Miteinanders.

Per­fek­ti­on ist nicht dann erreicht, wenn es nichts mehr hin­zu­zu­fü­gen gibt, son­dern wenn man nichts mehr weg­las­sen kann.

Antoine de Saint-Exupéry

Ein­fach­heit ist die höchs­te Stu­fe der Voll­endung. Apple warb mit die­sem Slo­gan (der spä­ter dann fälsch­li­cher­wei­se Leo­nar­do daVin­ci zuge­schrie­ben wur­de) im Jahr 1977 für den Apple II. In punk­to Design und Bedie­nung setz­te Apple damals (und seit­dem immer wie­der) Maß­stä­be bei Per­so­nal Com­pu­tern und eröff­ne­te sich mit die­sem Allein­stel­lungs­merk­mal einen ganz neu­en Markt.

Apple Com­pu­ter, 1977

Am Bei­spiel Apple lässt sich auch gut erklä­ren, was droht, wenn Fokus und Ein­fach­heit ver­lo­ren gehen. Nach­dem Ste­ve Jobs 1985 Apple im Streit mit John Scul­ly ver­las­sen hat­te, diver­si­fi­zier­te Apple sein Ange­bot stark und ver­lor damit den Fokus. Das Pro­dukt­port­fo­lio wur­de unüber­sicht­lich und belie­big und wur­de für Apple im Lau­fe der Jah­re zur lebens­be­droh­li­chen Altlast. 

Tha­t’s been one of my man­tras – focus and sim­pli­ci­ty. Simp­le can be har­der than com­plex: You have to work hard to get your thin­king clean to make it simp­le. But it’s worth it in the end becau­se once you get the­re, you can move mountains.

Ste­ve Jobs

Erst eine radi­ka­le Reduk­ti­on des Pro­dukt­port­fo­li­os nach der Rück­kehr von Ste­ve Jobs im Jahr 1997 ret­te­te Apple vor dem fast siche­ren Kon­kurs: Eine Vier-Fel­der-Matrix mit Desk­top und Por­ta­ble auf der einen Ach­se und Con­su­mer und Pro­fes­sio­nal auf der ande­ren. Damit redu­zier­te er das heil­los über­bor­den­de Port­fo­lio bei Apple um rund 70% auf hand­li­che vier Pro­dukt­li­ni­en. Weni­ger aber bes­ser.

Nicht alle Fir­men ver­lie­ren den Fokus so dra­ma­tisch wie Apple oder wenigs­tens nicht mit so dra­ma­ti­schen Kon­se­quen­zen, aber grund­sätz­lich ist die Ten­denz zu über­frach­te­ten Pro­duk­ten und aus­ufern­den Pro­dukt­port­fo­li­os vie­ler­orts erkenn­bar, wenn­gleich hof­fent­lich nicht so extrem wie in die­sem gran­dio­sen Comic. Eben­so erkenn­bar und erleb­bar ist die Ten­denz zur ent­mün­di­gen­den und demü­ti­gen­den Über­re­ge­lung der Zusam­men­ar­beit durch ein Über­maß an Pro­zes­sen, Richt­li­ni­en und Anweisungen. 

Truth is ever to be found in sim­pli­ci­ty, and not in the mul­ti­pli­ci­ty and con­fu­si­on of things.

Isaac New­ton

Es gibt ja immer gute Grün­de etwas neu­es hin­zu­zu­fü­gen, eine neue Funk­ti­on zu einem Pro­dukt eben­so wie eine neue Regel, eine neue Anwei­sung oder einen neu­en Pro­zess. Jeder Son­der­fall, jeder Miss­brauch, jede Even­tua­li­tät muss dann bedacht und gere­gelt wer­den. Wo kämen wir denn sonst hin? 

Wo kämen wir hin,
wenn alle sag­ten,
wo kämen wir hin,
und nie­mand gin­ge,
um ein­mal zu schau­en,
wohin man käme,
wenn man ginge.

Kurt Mar­ti

Gute Fra­ge. Wir kämen weg von der Flut an kon­kre­ten Regeln hin zu weni­gen Prin­zi­pi­en der Zusam­men­ar­beit. Die brau­chen dann zwar gesun­den Men­schen­ver­stand in der Anwen­dung und nach Jah­ren der Über­re­ge­lung muss der frei­lich erst wie­der geschärft wer­den, aber dass es prin­zi­pi­ell mög­lich ist und zu hoch­mo­ti­vier­ten Mit­ar­bei­tern führt, zeigt ein kur­zer Blick ins Net­flix Cul­tu­re State­ment. Aus­ga­ben und Ver­trä­ge: „use good judgment“, Rei­se­kos­ten: „act in Netflix’s best inte­rest“, Urlaub: „take vaca­ti­on“ oder Erzie­hungs­zei­ten: „take care of your baby and yourself.“ 

Auch den Autoren des Mani­fest für agi­le Soft­ware­ent­wick­lung war die­se Ein­fach­heit ein eige­nes Prin­zip wert, was wenig ver­wun­der­lich ist, weil sie sich mit dem Mani­fest der Über­re­ge­lung der Soft­ware­ent­wick­lung durch schwer­ge­wich­ti­ge Pro­zess­mo­del­le wider­setz­ten. Und damit auch kei­ne Miss­ver­ständ­nis­se auf­kom­men, lie­fer­ten sie ihre sehr gelun­ge­ne Defi­ni­ti­on gleich mit: Ein­fach­heit ist die Kunst, die Men­ge nicht geta­ner Arbeit zu maxi­mie­ren. In die­sem Sin­ne und mit den Wor­ten von Anja Förs­ter und Peter Kreuz: „Kill a stu­pid rule!“. Vie­le davon. 



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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

7 Kommentare

Mir als Bruce Lee Fan fiel da gleich wie­der die­ses dazu ein:

It’s not the dai­ly increase but dai­ly decrease. Hack away at the unessential.”
 — Bruce Lee

Dan­ke für den Arti­kel, der mir dies erneut ins Bewusst­sein gebracht hat.

Ja! Fokus auf den WESENTLICHEN Kun­den­nut­zen und auf erfreu­li­che und pro­duk­ti­ve Zusam­men­ar­beit der Betei­lig­ten passt sehr gut zur Ein­fach­heit von schlan­ken Pro­duk­ten und Pro­zes­sen. Vie­len Dank für den anre­gen­den Arti­kel, Marcus.

Prin­zi­pi­ell fin­de ich die Redu­zie­rung von Über­re­gu­lie­rung auch begrü­ßens­wert. Aller­dings gibt es man­che Rege­lun­gen nicht umsonst.
Gera­de „Urlaub: „take vaca­ti­on““ ist mei­ner Mei­nung nach ein race to the bot­tom. Nicht umsonst wur­den Arbeit­neh­mer­rech­te erkämpft. Momen­tan mag es in der IT recht rosig aus­se­hen, bei einem mög­li­chen wirt­schaft­li­chen Abschwung kann das aber auch wie­der ganz anders aus­se­hen. Dann möch­te ich ungern auf mein Recht auf Urlaub ver­zich­ten, nur weil es jemand ande­ren gibt, der mei­nen Job mit weni­ger oder gar ganz ohne Urlaub macht.

Guter Ein­wand. Wenn es irgend­wo (war­um auch immer) die­ses race-to-the-bot­tom gibt, dann sind strik­te Regeln aber nur eine mög­li­che Reak­ti­on dar­auf. Sie kurie­ren aber nur das Sym­ptom. Es wäre doch viel bes­ser und nach­hal­ti­ger, die Ursa­che zu besei­ti­gen, oder? Wie kommt es, dass es in dem Team, der Abtei­lung, dem Unter­neh­men ohne die­se Regel zu die­ser schäd­li­chen Dyna­mik kommt? Und wo muss man anset­zen, dass sich das bessert.

Ich schät­ze solch heh­ren Zie­le sehr. Ich behaup­te jedoch, dass die Errei­chung in der momen­ta­nen Wirt­schafts­form eher unwahr­schein­lich sein dürf­te, die auf Wachs­tum aus­ge­legt ist. Solan­ge die nächs­te Gehalts­stu­fe, Beför­de­rung oder Dienst­wa­gen­klas­se von der Errei­chung von Zie­len abhän­gen und mehr Ziel­er­rei­chung mehr Beför­de­rung ver­spricht, sehe ich das eher nicht so optimistisch.
Zitat: „Kön­nen Sie noch ein zusätz­li­ches The­ma über­neh­men?“ In Klam­mern steht: Sie wol­len doch sicher auch vor­wärts kommen..

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