In ihrem sehr lesenswerten Buch „Die Burnout-Lüge“ nähert sich Martina Leibovici-Mühlberger dem Thema Burnout aus ungewohnter Perspektive. Die Gynäkologin und Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychosomatik führt die steigenden Fälle von Burnout auf den Verlust von Sinn und sozialem Zusammenhalt in unserer auf Konkurrenz und persönlichem Gewinn geeichten und als Resultat zutiefst narzisstischen Gesellschaft zurück. Der Burnout-Patient wird damit aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur „zum Seismographen dieser Fehlentwicklung“, so die Autorin. Die Arbeitswelt sei in diesem Drama der „hautpsächliche und sichtbarste Austragungsort des persönlichen Sinnverlusts und Entfremdungskonflikts des Einzelnen“. Nachdem sich mittlerweile ein immer größer werdender Teil der Arbeit innerhalb von Projekten abspielt, ist es vor diesem Hintergrund an der Zeit, ein paar unbequeme Fragen zu stellen. Beispielsweise inwieweit die Zunahme der projektbezogenen Arbeit die Entstehung von Burnout begünstigt. Und wie die Projektarbeit gesünder und menschlicher gestaltet werden kann und muss.
Die in den letzten Jahren und Jahrzehnten permanent zunehmende Projektarbeit scheint vor diesem Hintergrund ein wesentlicher Teil des Problems zu sein oder den Verfall wenigstens zu beschleunigen. Durch die Vielzahl an Projekten, die jeder einzelne, mittlerweile oftmals gleichzeitig oder jedenfalls parallel zu seiner Linienarbeit, zu bewältigen hat, leidet der soziale Zusammenhalt und die Sinnkopplung derart, dass dadurch ein idealer Nährboden für Burnout entsteht.
Der Mitarbeiter wird zur Ressource, die beliebig zwischen den Projekten aufgeteilt und verschoben werden kann. Sein einziger Sinn ist dabei das Ausfüllen der ihm zugedachten Rolle im jeweiligen Projekt. Gemessen wird sein Erfolg allein an den produktiven Stunden in diesen Rollen und konsequenterweise sein Gehalt daran gekoppelt gemäß der immer noch vorherrschenden Mode der Incentivierung. Sozialen Zusammenhalt gibt es nur noch in den Ausnahmefällen eines gut funktionierenden Projektteams und dann auch nur für die Dauer dieses einen Projekts. Anschließend werden die Ressourcen neu gemischt.
Waren Projekte einst vielleicht noch willkommene Ausnahmen von der üblichen abwechslungsarmen Linientätigkeit, sind sie heute längst zur Regel und Last geworden. Natürlich sind Projekte für die Beteiligten herausfordernd und manchmal auch stressig. Die reine Arbeitslast scheint aber nicht das primäre Problem zu sein. Gewichtiger erscheint das Übermaß an Projekten, das den sozialen Zusammenhalt in Unternehmen gefährlich unterminiert und damit der Individualisierung und Isolation Vorschub leistet.
Die Tendenz zu vermehrter Projektarbeit ist in allen Unternehmen zu beobachten. Damit begegnen Unternehmen dem Veränderungsdruck und der Schnelllebigkeit unserer Zeit in der es „normal ist, dass vieles anders ist und immer schneller anders wird“ (Karl-Heinz Geißler). Besonders drastisch und dramatisch ist die Lage aber in den Unternehmen die ausschließlich projektorientiert arbeiten wie zum Beispiel IT-Dienstleister. Dort gibt es keine Linienarbeit sondern nur Projekte, in denen der Mitarbeiter also seinen Sinn und Zusammenhalt wenigstens für kurze Zeit finden muss. Zudem liegt der Sinn aller dieser Projekte außerhalb der eigenen Organisation, bei einem beliebigen Kunden mit dem den Mitarbeiter noch weniger verbindet als mit der eigenen Organisation. Allein die Tatsache, dass die meisten Mitarbeiter bei IT-Dienstleistern jung sind und nach einigen Jahren den Absprung in eine anderen Beschäftigung suchen und finden, verhindert hier meiner Meinung nach Schlimmeres. Insofern können die überdurchschnittlich hohen Fluktuationsraten in der IT-Branche auch als Beleg für den durch intensive und sinnfreie Projektarbeit in einer Atmosphäre der Konkurrenz verursachten Leidensdruck gedeutet werden.
Alle Unternehmen müssen also dafür sorgen, dass trotz vermehrter oder ausschließlicher Projektarbeit ein sozialer Zusammenhalt in Form einer Haltung der Kooperation anstatt der Konkurrenz entsteht und erhalten bleibt. Beispielsweise durch einen vermehrten Wissens- und Erfahrungsaustausch, durch intensive gemeinsame Weiterbildungen oder wenigstens gemeinsame Erlebnisse und Rituale. Vielerorts wird aber genau das sogar bewusst vermieden und die durch Projektarbeit vorhandene Tendenz zur narzisstischen Individualisierung und sozialen Entwurzelung noch durch alljährliche Umorganisation und kontraproduktive, weil auf Konkurrenz basierende, Anreizsysteme verstärkt. Projektleiter wiederum tun gut daran, in ihren Projekten diesen sozialen Zusammenhalt und die Kooperation im Kleinen zu fördern. Aufgabe des Projektleiters ist es auch dem Menschen als Gemeinschaftswesen einen adäquaten Lebens- und Arbeitsraum im Projekt zu bieten.
Artikelbild: Thomas’s Pics bei flickr.com (CC BY 2.0)
10 Kommentare
Unbequeme Fragen – gefällt mir. Bei diesem Thema halte ich es trotz allem für wichtig hervorzuheben, dass Mitarbeiter nicht immer nur „Opfer“ sind. Trotz des Drucks von außen hat doch jeder Einzelne oft auch die Wahl, wie stark er sich engagiert und wie intensiv er sich den Erwartungen von außen stellt.
Trotzdem stimme ich zu, dass es Aufgabe von Projektleitern und Arbeitgebern ist, dieses Thema auf dem Schirm zu haben und darauf zu achten, dass Mitarbeiter ein gesundes Arbeitsumfeld vorfinden.
Keineswegs wollte ich Mitarbeiter pauschal als Opfer darstellen, genauso wenig wie die Arbeitsbelastung pauschal die Ursache sein kann. Mir bereitet nur der Gedanke des Buches Sorge: Burnout als Symptom eines kranken Systems, das aufgrund einseitiger Ausrichtung auf Konkurrenz und Streben nach persönlichem Gewinn und Vorteil den Einzelnen in tiefgreifende Sinnkrisen treibt. Ich kann dieser Argumentation viel abgewinnen und muss zugeben, dass vielfach die Projektarbeit dieses Problem eher noch verschärft.
Ich denke nicht, dass die Projektarbeit an sich und alleine ein Auslöser von Burnout ist. Es sind die erwähnten und treffend beschriebenen Ausprägungen und Begleiterscheinungen, die dann den Burnout auslösen. Prozessorientierte Arbeit mit ihrem Routinecharakter kann genauso kritisch sein, wenn die Sinnhaftigkeit verloren geht und es zu Muda (also sinnloser Tätigkeit = speziell Verschwendung im ursprünglich japanischen Wortsinn) und Muri (= Überlastung) kommt. Projektarbeit ist im Kern m.E. die älteste Arbeitsform (im Vergleich zur Prozessarbeit, die in ihrem Verständnis deutlich jünger ist). Die Sinnlosigkeit tritt dann ein, wenn die Sichtbarkeit des Einzelbeitrags zum Gesamtergebnis verloren geht (vgl. die Geschichte vom steinklopfenden Steinmetz zum Erbauer einer Kathedrale), egal ob es die einmalige Arbeit in Projekten oder Standardarbeit in Prozessen ist.
Danke für Deinen Kommentar. Ich glaube auch, dass Projektarbeit eigentlich eine der ältesten Arbeitsformen ist. Im Kern jedenfalls und in dem Sinne, dass man gemeinsam etwas schafft oder erreicht. Vielfach ist heute aber ein Projekt nichts anderes als eine Organisation auf Zeit mit ihren Prozessen und Hierarchien. Insofern finde ich dass Projekte die Tendenz zur Entwurzelung des Einzelnen vorantreiben ohne ihn von den Problemen der Linienorganisation zu erlösen. Sicher ist die Projektarbeit allein kein Auslöser von Burnout. Ich habe mich einfach gefragt, was ich als Projektleiter oder wir als Unternehmen, das Projekte durchführt, machen kann, um meinen Mitarbeitern ein möglichst förderliches Umfeld zu bieten.
Ja, das ist so eine Sache mit der Verantwortlichkeit…
Bei einer Session auf dem PMCamp 2012 in Dornbirn wurde von einigen Anwesenden ebenfalls das Hohelied der Selbstverantwortung gesungen: Jeder sei für sich selbst verantwortlich, müsse seine Grenzen kennen und ggf. auch die Konsequenzen ziehen.
Klingt gut, aber so einfach ist es nicht. Wenn ich Baustellenleiter bin und sehe, dass in zehn Meter Höhe ein Mitarbeiter ungesichert herumturnt, darf ich dann sagen: Das muss er selber wissen, schließlich ist er für sich selbst verantwortlich? Nicht falsch verstehen, rechtlich gesehen ist das sowieso keine Frage, mir geht es um die ethische Position. Darf der Vorgesetzte wegschauen?
Ich denke, nur wenige werden mit „Ja“ antworten. Wenn das bei physischen Gefährdungen recht ist, warum soll das dann bei psychischen nicht billig sein?
Im übrigen befinden sich die psychischen Belastungen für Mitarbeiter der IT-Branche schon länger auf dem Schirm. Siehe hierzu die Schriften des Projekts ( ;-) ) DIWA-IT Demographischer Wandel und Prävention in der IT (http://www.diwa-it.de/) von 2009.
Ich denke auch, daß die Frage der „Projektarbeit“ nicht relevant ist.
Natürlich ist für Mitarbeiter in „Prozeßarbeit“ schwierig, auf Projekte umzudenken. Das ist aber umgekehrt auch so, und führt in der Regel nicht zu besonderer Belastung.
Die Gründe für einen Burn-Out oder einen Bore-Out liegen zu kleineren Teil in den Mitarbeitern:
Manche haben eine passende Disposition, ausgeprägtes (übertriebenes?) Pflichtgefühl oder Ähnliches.
Vieles liegt aber auch in den Firmen begründet:
Zum Einen werden Mitarbeiter mittlerweile als Humanressourcen behandelt, mit Inventarnummern versehen und entsprechend als vollkommen austauschbar betrachtet.
Über soziale Integration (Team Building), die notwendige Zeit zur Sozialisierung und Sinnstiftung macht sich niemand mehr Gedanken.
Selbst eingespielte Teams werden immer wieder auseinandergerissen und auf neue Projekte verteilt; Kommunikation jenseits der Prozesse/Projekte geächtet und verbannt; Außerdem wird gepredigt, daß doch nur der Shareholder Value der ultimative Sinn dieser 8 – 9 Stunden Tagesleistung sein.
Auf die Dauer schalten die Einen ab; die Anderen versuchen sich selbst einen Sinn zu verschaffen und steigern sich in ihre Arbeit hinein.
Das alles führt dann zum Ausbrennen der Mitarbeiter und der (viel zu späten) Erkenntnis, daß man die Leute doch nicht einfach aus dem Lager holen kann, wenn die ersten Ausfälle (oder Kündigungen) kommen.
Der Gesamtkomplex läuft für mich mittlerweile unter Geisteshaltung, frei nach TurnAround PM.
Frei deshalb, weil ich für mich feststelle, daß die Haltung der Mitarbeiter, der „Führungskräfte“ und aller anderen Beteiligten (oder auch Stakeholder) ein hochkomplexes, vernetztes System bildet, das man nicht mit der momentanen Führungsschule erfassen kann.
Niemand ist wirklich schuld, aber gleichzeitig sind alle schuld, weil niemand den Ausweg findet.
Die große Frage, die sich die Wirtschaft in sehr, sehr kurzer Zeit beantworten muß:
„Wie kriegen wir das wieder auf die Reihe?“
Danke für Deinen Kommentar, Thilo. Du hast leider recht, dass mittlerweile ist durch ständige Umorganisation und das pausenlose Loblied auf den Shareholdervalue sowieso jeglicher Zusammenhalt und Sinn verloren gegangen ist. Da macht es auch nicht mehr viel Unterschied, ob da noch ein paar Projekte zu stemmen sind. Wir müssen das wieder auf die Reihe kriegen.
So ist es.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Kriterien an einen menschengerechten Arbeitsplatz wie folgt formuliert: „Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit und die Arbeitsbedingungen organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein.“
Gerade gelesen…
Dem ist nichts hinzuzufügen und könnte doch nicht weiter von unserer Realität entfernt sein und entfernt sich in meiner Wahrnehmung von Jahr zu Jahr ein Stück mehr.
Hmm… Das ist doch auch eher die Vision zum Thema.
Konkrete Handlungsrichtlinien* gibt es viele: Arbeitszeitgesetz, Urlaubsgesetz etc. pp.
Das Problem ist doch (unter Anderem), daß wir die schon nicht einhalten.
Eine positive, förderliche und gesunde Arbeitskultur wäre dann schon die Kür, während wir an der Pflicht scheitern…
*: Diese Gesetze sind zum Teil Negativ-Gebote.
Was man _nicht_ darf, ist gut geregelt. Aber wie sollen wir denn arbeiten, damit das Ganze gesund bleibt?
Oder anders: Was können die Indianer tun, um von den Häuptlingen die nötige Handlungsfreiheit zu bekommen?