Und dann kam Corona. Von einem Tag auf den anderen wurde verteiltes Arbeiten aus dem Homeoffice zum New Normal. Digitalisierung war über Nacht nicht mehr nur schmückendes Beiwerk, sondern systemkritisch. COVID-19 hat die Digitalisierung in kürzester Zeit stärker angetrieben als CIO, CTO und CDO die letzten Jahre zusammen. Jedenfalls dort, wo Organisationen sich auf diese Veränderung eingelassen haben, um gemeinsam eine bessere Zukunft nach Corona zu gestalten.
Das Change Modell von Virginia Satir
Wie reagieren Menschen auf Veränderungen? Dazu hat die Familientherapeutin Virginia Satir ein Modell vorgeschlagen, das sich gut auf Veränderungsprozesse in Organisationen übertragen lässt.
Ein stabiler Status quo wird durch ein fremdes Element in Frage gestellt. Das kann eine neue Technologie sein, die das bisherige Geschäftsmodell bedroht (z.B. MP3 in Kombination mit Breitband-Internet), ein neuer Wettbewerber mit anderer Arbeitsweise und höherer Produktivität (z.B. Lean Production bei Toyota) sein oder eben eine Pandemie, die uns vor Augen führt, was VUCA heißt und wie wichtig folglich Reaktionschnelligkeit und Agilität wären.
Problems are not the problem; coping is the problem.
Virginia Satir
Nach anfänglichem Widerstand gegen das Neue führt die unvermeidliche Auseinandersetzung damit zunächst zu Unsicherheit und Chaos und unweigerlich einem Rückgang der Produktivität. Je nach Stärke dieses Impulses und der Bereitschaft sich mit dem fremden Element konstruktiv auseinanderzusetzen dauert diese Phase mehr oder weniger lange an bis es schließlich gelingt, die Chancen der Veränderung zu begreifen und zu nutzen. Nach und nach gelingt es der Organisation dann, das Neue zu integrieren und zu ihrem Vorteil zu nutzen.

Diese Grafik aus dem lesenswerten Artikel von Steven M. Smith veranschaulicht gut das Modell von Virginia Satir, das aus den folgenden fünf Phasen besteht:
- Phase 1: Der späte Status quo
Es herrscht Stabilität. Beziehungen, Strukturen und Prozesse sind stabil und eingespielt. Business as usual. - Phase 2: Widerstand
Der bewährte Status quo wird durch ein fremdes Element herausgefordert. Die ersten Reaktionen darauf sind Verleugnung, Ablehnung und Widerstand. Der Status quo soll damit so lange wie möglich bewahrt werden. - Phase 3: Chaos
Lässt sich das fremde Element nicht länger ignorieren oder bekämpfen, beginnt die Stabilität des Status quo brüchig zu werden. Beziehungen, Strukturen und Prozesse stehen plötzlich in Frage. Das führt zu Unsicherheit, Angst und Chaos. - Phase 4: Integration
In dieser Phase erkennt die Gruppe, wie das einst fremde Element gewinnbringend integriert und genutzt werden kann. Die Menschen wechseln die Perspektive gegenüber dem Neuen, beginnen damit zu experimentieren und Erfahrungen zu sammeln. Nach und nach bilden sich trotz Rückschlägen und Fehlern bei diesen Experimenten neue verlässliche Beziehungen, Strukturen und Prozesse. - Phase 5: Der neue Status quo
Das fremde Element ist nun vollständig integriert. Wie im vorigen Status quo sind Beziehungen, Strukturen und Prozesse wieder stabil und eingeschwungen. Allerdings hoffentlich auf höherem Niveau.
Die Krise als Chance nutzen
Not macht ja bekanntlich erfinderisch. Auch wenn es sich vielleicht im ersten Moment nicht für jeden und sicher nicht immer so anfühlt, im Wesentlichen hat Max Frisch schon Recht: „Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“

Ganz besonders trifft das auf die chaotische Phase 3 im Change Modell von Virginia Satir zu. Die gilt es auszuhalten und möglichst angstfrei durchzustehen. In ihr liegt der Keim für den neuen und besseren Status quo. Und dieser Keim gedeiht am besten, wenn es gelingt, den Menschen Lust auf das Experimentieren mit dem Neuen und Fremden machen und idealerweise dabei ein Lernen voneinander zu fördern.
Entscheidend dafür ist aber, dass Führung gerade in dieser Phase der Unsicherheit einerseits für psychologische Sicherheit im Inneren und andererseits für schonungslose Klarheit über die Lage, die Bedrohung und die gemeinsame Strategie sorgt. Gelingt das, darf auf die Kreativität und Leistungsbereitschaft der betroffenen Menschen gehofft werden.
Die Sache mit dem Homeoffice
Über Nacht machte die Corona-Pandemie verteilte Zusammenarbeit für sehr viele Wissensarbeiter zum Standard. Auch wenn mobiles Arbeiten in vielen Unternehmen vorher prinzipiell schon möglich war, blieb das doch die Ausnahme. Homeoffice war zweitklassige, immer ein bisschen verdächtige und deshalb explizit zu begründende Arbeit. Machen wir uns nichts vor, vielerorts herrschte vor Corona ein ausgeprägter Präsenzkult und dessen Credo lautete: Echte Arbeit findet nur im Büro und nur unter Aufsicht statt.
Dieses Credo geriet nun sogar in deutschen Traditionskonzernen wie Siemens oder Allianz ins Wanken. Dort gelang es also den Impuls der Corona-Pandemie nach der Phase der Unsicherheit konstruktiv aufzunehmen und das fremde Element einer standardmäßig verteilten und auf Sinn und Vertrauen basierenden Zusammenarbeit in einen neuen Status quo zu integrieren.
The problem is not the problem. The problem is your attitude about the problem.
Captain Jack Sparrow
Nicht überall wurde die Krise derart als Chance genutzt. Vielfach wurde und wird krampfhaft am alten Status quo festgehalten. Aus den mäßig produktiven Besprechungen wurden einfach noch weniger produktive Videokonferenzen. Mit viel Einsatz und Disziplin lässt sich damit über ein paar Monate ein Eintauchen in das Chaos der Phase 3 im Change Modell von Virginia Satir verhindern. Eine Auseinandersetzung mit dem Neuen findet aber nicht statt, weil die Organisation, angeführt von einem Kapitän, der die Brücke nie verlässt und auf gar keinen Fall im Homeoffice arbeitet, immer in der Phase 2 des Widerstands und der Verleugnung verharrt.
Natürlich ist es aus dieser Perspektive nur konsequent, unter massiven Sicherheitsvorkehrungen möglichst schnell wieder den alten Status quo hochzufahren. Die Quittung für diese verpasste Chance wird aber in ein paar Jahren kommen. Einerseits werden Unternehmen ohne mobiles Arbeiten basierend auf Augenhöhe und Selbstbestimmung als Arbeitgeber dann nicht mehr ausreichend attraktiv sein. Andererseits bringt der Paradigmenwechsel hin zu einer verteilten Arbeit als Standard auch ungeahnten Schwung in die Digitalisierung und das wird auf lange Sicht die Produktivität gegenüber dem heutigen Status quo des Präsenzkults deutlich steigern.
Dieser Beitrag entstand anlässlich der Blogparade Achtung. Zukunft. – 8. PM Camp Berlin Online.
Ein Kommentar
Hallo Marcus,
wichtig ist hierbei, dass wir alle die beschriebenden Phasen bei einer Veränderung in unterschiedlichem Tempo bewältigen – unabhängig von der Position oder ob es für den beruflichen oder privaten Kontext gültig ist.
Daher kann das Modell wunderbar in einem Veränderungsprozess verwendet werden, um die unterschiedlichen „Standorte“/Phasen des Teams feststellen und reflektieren zu können.
Dabei wir wahrscheinlich schnell eine recht heterogene Verteilung deutlich werden, die als Chance genutzt werden kann.
Denn diejenigen, welche sich bereits in Phase 4 oder 5 bewegen, können als Unterstützer für diejenigen tätig werden, welche sich erst in den Anfangsphasen befinden bzw. von dort aus nicht weiter kommen.
Das Modell von Riemann-Thomann wirkt in diesem Zusammenhang unterstützend, um einen andenen Blick auf die Zögerer und die Vorpreschenden zu bekommen.
Übrigens habe ich das von Dir beschriebene Change Modell von Virginia Satir vor kurzen auf einem anderen Blog unter dem komplett anderen Titel House of Change nach Claes F. Janssen gefunden :-)