Jeder ist ein Genie. Aber wenn wir einen Fisch danach beurteilen, wie gut er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben lang denken, er sei dumm. Dieses geflügelte Wort wird gerne Albert Einstein zugeschrieben. Dafür gibt es zwar keine Belege, aber es passt sehr gut zu Einsteins Lebenslauf: Er begann erst im Alter von drei Jahren zu sprechen und obwohl kein schlechter Schüler war er eben auch kein Wunderkind. Seine Stärken blieben lange unentdeckt oder wurden jedenfalls nicht ausreichend genutzt. Zur Zeit seiner bahnbrechenden ersten Publikationen in seinem Annus mirabilis 1905 war er Technischer Experte 3. Klasse beim Schweizer Patentamt. Und das war eigentlich schon ein Aufstieg, weil er sich zuvor als Hauslehrer verdingen musste, nachdem seine Bewerbungen auf Assistentenstellen am Polytechnikum und anderen Universitäten abgelehnt wurden.
In seinem immer wieder sehr lesenswerten Buch „The Effective Executive“ (Amazon Affiliate-Link) widmet Peter F. Drucker ein ganzes Kapitel der Frage, wie man sich selbst und seine Mitarbeiter am besten einsetzt. Seine Grundannahme ist darin, dass jeder einige individuelle Stärken hat – und ganz viele Schwächen. Das deckt sich vermutlich mit der Erfahrung, die wir täglich als Mensch, Chef, Mitarbeiter oder Eltern machen.
The idea that there are „well-rounded“ people, people who have only strengths and no weaknesses (…) is a prescription for mediocrity if not for incompetence. Strong people always have strong weaknesses too.
Peter F. Drucker, 1967. The Effective Executive
Seit Schulzeiten sind wir nun aber auf die Defizite fokussiert. In Bewerbungsgesprächen werden wir dann nach unserer größten Schwäche gefragt und in jedem Jahresgespräch werden wir darauf angesprochen, wo wir uns noch verbessern müssen. Alles mit dem Ziel, eines möglichst abgerundeten Menschen. Das führt aber fast zwangsläufig dazu, dass Stärken verkümmern, während die Schwächen bis zum akzeptablen Mittelmaß ausgebaut werden. Das ist weder gut für die Menschen und ihre Motivation, die ganz wesentlich auf ihrer Selbstverwirklichung beruht, noch ist es gut für die Leistung der Organisation.
To make strength productive is the unique purpose of organization. It cannot, of course, overcome the weaknesses with which each of us is abundantly endowed. But it can make them irrelevant.
Peter F. Drucker, 1967. The Effective Executive
Führung bedeutet, Stärken zu stärken und Schwächen irrelevant zu machen. Und Führung beginnt immer mit Selbstführung und also damit, sich selbst zu (er)kennen und sich selbst anzunehmen in seinem einmaligen Wesen, mit den jeweiligen Stärken und Schwächen. Es geht darum sich selbst treu zu bleiben ohne ständig anderen Menschen oder einem abstrakten und rundum perfekten Idealbild nachzueifern.
We are all born originals – why is it so many of us die copies?
Edward Young
Die Erkenntnis der eigenen Stärken ist niemandem in die Wiege gelegt und fällt keinem in den Schoß, sondern ist das Ergebnis systematischen Reflektierens. Effektive Führungskräfte setzen sich Ziele und überprüfen regelmäßig ihre Leistung. Peter F. Drucker empfiehlt dazu die sogenannte Feedback Analysis: Bei jeder wichtigen Entscheidung hält man schriftlich die Erwartungen und Befürchtungen fest und vergleicht das dann nach 9 bis 12 Monaten mit den tatsächlichen Ergebnissen (vgl. dazu Peter F. Drucker, Managing Oneself. Amazon Affiliate-Link). Eine einfache, aber effektive Methode, um systematisch die eigenen Stärken zu erkennen.
Most people think they know what they’re good at. They are usually wrong. More often, people know what they’re not good at — and even then more people are wrong than right.
Peter F. Drucker
Ein guter Einstieg, um sich mit den eigenen Stärken zu beschäftigen, können (bei aller berechtigter Kritik daran) auch Persönlichkeitstest wie dieser sehr schöne von 16Personalities sein. Ich jedenfalls habe mich in meinem Ergebnis Logiker / INTP‑T gut wiedererkannt (auch jenseits des Barnum-Effekts). Ich habe verstanden, dass mich immer das Neue reizt. Jedenfalls bis ich es grundlegend verstanden, durchdrungen und ausprobiert habe. Wenn es danach nämlich daran geht das umzusetzen, auszurollen und zu industrialisieren sinkt meine Motivation merklich.
Darum schreibe ich ja seit fast 10 Jahren kurze Blog-Artikel und kaum Bücher und wenn Bücher wie das Manifest für menschliche Führung, dann solche, die aus Blog-Artikeln bestehen. Darum ist mein Lebensweg auch kein geradliniger Karrierepfad. Und darum kann ich dem Konzept von Wu Wei, also dem Leben im Fluss, viel mehr abgewinnen als der Übung, sich durch das Schreiben der eigenen Grabrede Lebensziele zu setzen und darauf hinzuarbeiten.
In der Terminologie von Simon Wardley bin ich dann wohl eher Pionier als Siedler oder Städteplaner. Und das ist gut so. Jedenfalls solange, wie man in der Lage ist, diese Stärken einzusetzen und es andere gibt die meine Schwächen als Siedler oder Städteplaner ausgleichen. Aber genau dafür gibt es ja Organisationen (oder Netzwerke) und gelegentlich auch Führungskräfte, die Stärken stärken und das Potential der Mitarbeiter zur Entfaltung bringen wollen.
4 Kommentare
Mein Selbstbild hat sich deutlich verändert, nachdem ich den Gallup-Strength-Finder-Test gemacht habe und mir eingestanden habe, dass „Führung“ und „Disziplin“ eben nicht zu meinen großen Kompetenzen gehören, ich dafür aber meine Schwerpunkte z.B. darin habe, Menschen bei ihrer Entwicklung helfen zu wollen.
Dieses Eingeständnis hat mir dann Wege gezeigt, meine eigentlichen Kompetenzen zu entwickeln und wertschöpfend einzusetzen und um die Dinge, die ich eben nicht so gut kann, einen Bogen zu machen oder diese zu delegieren.
Klappt seit Jahren perfekt.
Sehr gut. Alles beginnt mit dieser Selbsterkenntnis. Man muss nicht alles können.
Lieber Marcus, ein interessanter Artikel – zu dessen Thema ich aber dann doch meine eigene Ansicht habe.
Mein Ex-Arbeitgeber hat jedem Mitarbeitenden einen Kurztest des CliftonStrengths-Finder gespendet. Das Ergebnis sollte man dann im Team austauschen.
Der Effekt war dann aber so, dass man nur noch auf seine Top-3-Stärken reduziert wurde. Entwicklungsfelder die man ggf. (wieder) stärken wollte wurden komplett negiert. Eine persönliche Weiterentwicklung damit komplett verhindert. Stärken stärken – so das Konzept, verhinderte jegliche Bemühung sich mit einem Thema neu auseinanderzusetzen.
Immer dann, wenn Dinge radikal umgesetzt werden, immer dann geht es eben auch schief.
Lieber Oli, an so etwas hatte ich gar nicht gedacht. So war mein Artikel auch gar nicht gemeint. Natürlich muss persönliche Entwicklung möglich bleiben im Sinne einer noch verborgenen Stärke oder auch einfach nur im Sinne eines Ausprobierens, auch um zu verstehen, dass es einem vielleicht nicht so liegt. Zu radikal ist nie gut.