Wenn man als einziges Werkzeug nur einen Hammer hat, ist es sehr verlockend, alles als Nagel zu betrachten (Maslow & Society, 1966). Diese Tendenz Werkzeuge und Methoden allein aufgrund ihrer Verfügbarkeit auf jedes noch so unpassende Problem anzuwenden ist auch bekannt als das Law of Instrument oder auch als Maslows Hammer. Kombiniert mit der menschlichen Tendenz eigene Fähigkeiten gerade dann massiv zu überschätzen, wenn wir eigentlich nur ein erstes sehr grundlegendes Verständnis haben (Kruger & Dunning, 1999) erklärt sich damit so mancher Irrweg bei der einen oder anderen agilen Transformation wie Gremien die ihre Arbeit plötzlich in Sprints organisieren, obwohl sie weder ein Team sind noch an einem gemeinsamen Produkt arbeiten.
Maslows Hammer ist aber keineswegs ein Problem von Laien, sondern beschreibt ursprünglich einen blinden Fleck von Experten (Maslow & Society, 1966). Schmerzhaft spürbar wird dieser blinde Fleck beim Umgang mit komplexen Problemstellungen in Bereichen wo Experten vornehmlich an komplizierten Dingen arbeiten. Das Ingenieurwesen beispielsweise bewegt sich hauptsächlich im Bereich des Komplizierten. Die Herangehensweise ist entsprechend eine analytische: Experten zerlegen das Problem, analysieren die Teile und verschiedene Aspekte und setzen die Lösungen dann zusammen. So werden Fabriken, Autos und Flugzeuge gebaut. Normale Flugzeuge jedenfalls.
Die Kunst des Flugzeugbaus war 1976 bereits weit gediehen. In diesem Jahr nahm die Concorde als erstes Überschall-Passagierflugzeug den regelmäßigen Flugbetrieb auf. Es beförderte seine Passagiere mit mehr als doppelter Schallgeschwindigkeit in der Rekordzeit von 3 bis 3,5 Stunden und damit doppelt so schnell wie bisher von London oder Paris nach New York (vgl. Wikipedia). Eine ganz andere und auf den ersten Blick viel einfacher anmutende Herausforderung des Flugzeugbaus war zu diesem Zeitpunkt allerdings immer noch ungelöst.
Im Jahr 1959 begannen nicht nur in Frankreich und Großbritannien die Vorentwicklungen zur Concorde. In diesem Jahr stiftete auch der britische Industrielle Henry Kremer einen Preis von 5.000 britischen Pfund für das erste von einem Menschen mit Muskelkraft angetriebene Flugzeug, das aus eigener Kraft gestartet eine liegende Acht um zwei Pfosten im Anstand von einer halben Meile (806 Meter) innerhalb von 8 Minuten fliegen würde. Im Jahr 1967 verdoppelte Kremer das Preisgeld und 1973 erhöhte er es schließlich auf 50.000 britische Pfund. Trotz dieser stattlichen Summe, die nach heutiger Kaufkraft knapp 720.000 € entspräche, scheiterten viele Teams im Laufe der Zeit an diesem Problem (vgl. Wikipedia).
Der amerikanische Physiker Paul MacCready hatte zwar eine Promotion über atmosphärische Störungen und war ein passionierter Segelflieger, aber kein Flugzeugingenieur. Er hatte lediglich einige Erfahrungen im Bau von Indoor-Flugzeugmodellen aus seiner Jugend und im Bau von Hängegleitern mit seinen Söhnen. Und er hatte im Sommer des Jahres 1976 100.000 US-Dollar Schulden aufgrund einer Bürgschaft für ein gescheitertes Start-up eines Freundes. Diese Summe entsprach nach damaligem Wechselkurs ziemlich genau den 50.000 britischen Pfund des von Henry Kremer gestifteten Preises, weshalb sich Paul MacCready für das Problem des Muskelkraftflug zu interessieren begann.
Mangels Vorwissen über die richtige Art Flugzeuge zu konstruieren und mangels Budget für ein großes Team an Experten und kostspieliges Material hielt sich Paul McCready nicht lange mit Analyse und Planung auf so wie die anderen Profiteams. Da er während des Sommerurlaubs den Flug von Geiern studiert hatte, hatte er die Idee, sein Glück mit einem leichten „Modellflugzeug“ mit riesiger Spannweite (29 Meter und damit etwa so groß wie die einer DC‑9) zu versuchen. Innerhalb von nur zwei Monaten war die erste Version des Gossamer Condor bestehend aus Aluminiumrohren, Drahtseilen und Hartschaum und überzogen mit einer Polyesterfolie bereit zum Testflug. Dieser endete – wie so viele danach – mit einem Absturz. Doch genau darum ging es.
Der Gossamer Condor war also das naive Werk eines Laien, der sich nicht darum kümmerte, wie Profis nach dem damaligen Stand der Technik Flugzeuge konstruierten. Dieser Stand der Technik, den die Konkurrenten anwendeten, führte zwar zu sehr ansehnlichen und auch relativ schnellen Flugzeugen, die aber dadurch auch aufwändiger und schwerer wurden – zu schwer, um durch die Muskelkraft eines Menschen auf Dauer betrieben zu werden. Der eigentliche Wettbewerbsvorteil des Designs von Paul MacCready lag aber weniger in der Leichtigkeit oder anderen technischen Finessen, sondern darin, dass der Gossamer Condor so einfach aufgebaut und damit einfach zu reparieren war. So konnte das Team viel schneller aus Misserfolgen lernen als die Konkurrenz.
Der Erfolg dieser Taktik ließ nicht lange auf sich warten. Das kleine Team von Paul MacCready konnte innerhalb von wenigen Monaten die Konkurrenz überholen und den Gossamer Condor Misserfolg für Misserfolg so weit verbessern, dass es ihnen mit dem Radprofi Brian Allen als Piloten schließlich am 23. August 1977 gelang, die für den Kremer-Preis geforderte liegende Acht um die zwei Pfähle im Abstand von einer halben Meile in recht gemächlichen 7:25:05 Minuten zu fliegen. Und nur zwei Jahre später, am 12. Juni 1979, schaffte es dasselbe Team mit dem Gossamer Albatross, dem Nachfolgemodell des Condor, den Ärmelkanal zu überqueren und erhielt dafür den zweiten Kremer-Preis, der mit 100.000 britischen Pfund dotiert war. Paul MacCready war seine Schulden los und ging so in die Annalen der Luftfahrt ein.
Die Profiteams vor ihm folgten den Regeln der Ingenieurskunse. Wenn damit Überschallflug und die Landung auf dem Mond möglich sind, dann lässt sich sicher auch dieses gar nicht so kompliziert erscheinende Problem damit lösen. Offenbar war das Problem aber doch komplexer als ursprünglich gedacht. Mit demselben analytischen Vorgehen der Ingenieurskunst, das den Flugzeugbau über Jahrzehnte immer weiter verbessert hatte, war der Komplexität des Muskelkraftflugs nicht beizukommen.
Der erfolgreiche Umgang mit Komplexität bedingt einen Wechsel der Methode von Analytik zu Empirie. Paul MacCready folgte seinem Instinkt und ging dieses Problem (auch mangels Alternativen) viel empirischer an als die eher analytisch geprägte Konkurrenz. Er konzentrierte seine sehr limitierten Ressourcen auf das wirklich Wesentliche und ließ alles andere weg. Das Flugzeug musste weder schnell noch ansehnlich sein, es benötigte lediglich eine große Spannweite für viel Auftrieb wie beim Segelflug bei möglichst geringem Gewicht, weil die Muskelkraft eines Menschen der limitierende Faktor war. Und um schnell aus Versuchen zu lernen und schnell neue veränderte Konstruktionen auszuprobieren musste es einfach aufgebaut und einfach zu reparieren sein.
The real challenge wasn’t to build an elegant aircraft that could do the figure eight on the field around the two pylons; it was to build a large, light aircraft, “no matter how ugly it is,” that you could crash, “then repair, modify, alter, redesign — fast.” That was when he suddenly realized, “There is an easy way to do it.”
(McKeown, 2021)
Wer viele Jahre seiner Ausbildung und seines Berufslebens mit der erfolgreichen Anwendung eines Hammers auf verschiedene Sorten von Nägeln verbracht hat, dem fällt es schwer die Schraube zu erkennen und das Werkzeug zu wechseln. Auf den ersten Blick schien der Kremerpreis ein eher kompliziertes Problem zu sein oder jedenfalls hielten es die so trainierten Ingenieure dafür. Tatsächlich dominierte aber durch die Einschränkung eines einzelnen Parameters, nämlich Antrieb allein durch die Muskelkraft eines Menschen, eher die Komplexität. Erst durch das stark empirische Vorgehen von Versuch und Irrtum (oder vornehmer von Hypothese und Experiment) gelang Paul MacCready als Laien was den Experten vor ihm so lange versagt blieb.
Literatur
Kruger, J., & Dunning, D. (1999). Unskilled and unaware of it: How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. Journal of Personality and Social Psychology, 77(6), 1121 – 1134. https://doi.org/10.1037/0022 – 3514.77.6.1121
Maslow, A. H., & Society, J. D. (1966). The Psychology of Science: A Reconnaissance. Harper & Row.
McKeown, G. (2021). Effortless: Make it easier to do what matters most (First edition). Currency.
2 Kommentare
Hallo Marcus, aiuf papers zu verlinken, die hinter einer Paywall stecken, finde ich nicht wirklich gut.
Verstehe ich. Aber das ist die Quelle und damit der richtige Eintrag für die Bibliographie. In dem Fall hilft eine Suche auf Google Scholar und dort findest du dann auch PDFs zum Download.