Slow is smooth, smooth is fast

Schnell noch die Mails che­cken. Neben­bei ein paar Chat-Nach­rich­ten sen­den. Die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten ver­lei­ten uns dazu, unse­re Zeit immer wei­ter zu ver­dich­ten und uns durch den Arbeits­tag zu het­zen. Aber ist schnel­ler wirk­lich immer besser? 

End­lich wie­der ein Work­shop in Prä­senz. Alle Uten­si­li­en für die Marsh­mal­low-Chall­enge waren vor­be­rei­tet. Und als Bonus noch Mate­ri­al für das Ker­zen­pro­blem, das ich bis­her noch nie in einem Work­shop aus­pro­biert hat­te. Der Kar­ton stand griff­be­reit auf der Kom­mo­de im Flur. Vor­her noch zwei Bespre­chun­gen im Home­of­fice und in der dar­auf­fol­gen­den Lücke im Kalen­der woll­te ich ins Büro fah­ren. Mei­ne Tasche mit Lap­top und dem unver­meid­li­chen Sam­mel­su­ri­um an Kabeln prüf­te ich noch kurz vor Ver­las­sen des Hau­ses. Ich hat­te an mei­ne Was­ser­fla­sche gedacht, an ein paar Snacks und sogar an mei­nen Fir­men­aus­weis. Das Han­dy in der Hand, um eine kur­ze Nach­fra­ge im Chat zu beant­wor­ten, ver­ließ ich das Haus, setz­te mich ins Auto und fuhr ins Büro. Fast jeden­falls. Bis ich näm­lich kurz vor dem Ziel fest­stell­te, dass der Kar­ton immer noch auf der Kom­mo­de stand.

Statt 25 Minu­ten betrug mein Fahrt­weg an dem Tag knapp eine Stun­de und ich kam recht gehetzt ins Büro und zu mei­nem Work­shop, der dann aber ohne­hin mit Ver­spä­tung star­te­te, weil der Flug eini­ger Teil­neh­mer Ver­spä­tung hat­te. Gestresst war ich aber trotz­dem mehr als eigent­lich not­wen­dig. „Mul­ti­tas­king heißt, vie­le Din­ge gleich­zei­tig zu ver­mas­seln“ schrieb der Schwei­zer Jour­na­list und Publi­zist Erwin Koch und beschrieb damit tref­fend die gerech­te Stra­fe für mei­ne Hast (die kur­ze Chat-Nach­richt zwi­schen Tür und Angel war übri­gens auch miss­ver­ständ­lich und ent­wi­ckel­te sich dadurch in einen recht lan­gen Thread).

Mein etwas län­ge­rer Fahrt­weg ist zwar ärger­lich, aber es kam nie­mand zu Scha­den. Bei Ein­sät­zen der Navy Seals ist das anders, jede Unacht­sam­keit kann das eige­ne Leben oder das Leben von Ande­ren gefähr­den. Und obwohl Geschwin­dig­keit bis­wei­len ent­schei­dend für den Erfolg einer Mis­si­on sein kann, birgt über­stürz­tes Han­deln begüns­tigt durch eine gehö­ri­ge Por­ti­on Adre­na­lin im Kampf­ein­satz gro­ße Gefah­ren. Eine ganz wesent­li­che Leit­li­nie die­ser Spe­zi­al­ein­heit der US Navy lau­tet daher:

Slow is smooth, smooth is fast.

Es geht dabei dar­um, die ange­mes­se­ne Geschwin­dig­keit zu fin­den und zu hal­ten. Die­ses schein­bar para­do­xe Phä­no­men, dass lang­sam aber ste­tig schnell und erfolg­reich sein kann, fin­det sich bereits bei Äsop in der Fabel vom Hasen und der Schild­krö­te. Und ein japa­ni­sches Sprich­wort lau­tet: „Wenn du es eilig hast, gehe lang­sam. Wenn du es noch eili­ger hast, mache einen Umweg.“ Auch im Wett­ren­nen zwi­schen Scott und Amund­sen um die ers­te erfolg­rei­che Expe­di­ti­on zum Süd­pol sieg­te das Team, das sei­ne Geschwin­dig­keit auf ein nach­hal­ti­ges Maß beschränk­te, wie Greg McKeown in sei­nem Buch „Effort­less“ hervorhebt:

On Decem­ber 12, 1911, the plot thi­c­ke­ned: Amund­sen and his team got within for­ty-five miles of the South Pole, clo­ser than anyo­ne who had ever tried befo­re. They had tra­ve­led some 650 grue­ling miles and were on the ver­ge of win­ning the race of their lives. And the icing on the cake: the wea­ther that day was working in their favor. Amund­sen wro­te, “Going and sur­face as good as ever. Wea­ther sple­ndid — calm with suns­hi­ne.” The­re on the Polar Pla­teau, they had the ide­al con­di­ti­ons to ski and sled their way to the South Pole. With one big push, they could be the­re in a sin­gle day. Ins­tead, it took three days. Why? From the very start of their jour­ney, Amund­sen had insis­ted that his par­ty advan­ce exact­ly fif­teen miles each day — no more, and no less. The final leg would be no dif­fe­rent. Rain or shi­ne, Amund­sen “would not allow the dai­ly 15 miles to be excee­ded.” While Scott allo­wed his team to rest only on the days “when it fro­ze” and pushed his team to the point of “inhu­man exer­ti­on” on the days “when it tha­wed,” Amund­sen “insis­ted on ple­nty of rest” and kept a ste­ady pace for the dura­ti­on of the trip to the South Pole.

Greg McKeown in (McKeown, 2021, p. 134)

Hand aufs Herz: Wer wäre in die­ser Situa­ti­on nicht wenigs­tens ver­sucht gewe­sen, sich und das Team zur sprich­wört­li­chen Extra-Mei­le anzu­trei­ben? Fast täg­lich ver­su­che ich noch schnell etwas in mei­nen ohne­hin schon über­vol­len Tag zu quet­schen. Hier noch dies und dort noch jenes und zwi­schen Tür und Angel noch schnell die Chat-Nach­rich­ten. Ein wenig mehr geht immer. Und zu tun, gibt es ohne­hin mehr als genug.

Es fühlt sich wich­tig an, beschäf­tigt zu sein, aber so rich­tig effek­tiv ist es nicht immer. In der Hek­tik pas­sie­ren Feh­ler und es ent­ste­hen Miss­ver­ständ­nis­se und die­se füh­ren zu noch mehr Hek­tik. Um die­sen Teu­fels­kreis zu durch­bre­chen, braucht es zwin­gend Pha­sen zum Reflek­tie­ren und zum nach­hal­ti­gen Ver­bes­sern der Arbeits­wei­se. Des­halb neh­men sich erfolg­rei­che agi­le Teams genü­gend Zeit für Retro­spek­ti­ven und beher­zi­gen die­ses in der Hek­tik oft über­le­se­ne Prin­zip hin­ter dem Mani­fest für agi­le Soft­ware­ent­wick­lung: „Agi­le Pro­zes­se för­dern nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung. Die Auf­trag­ge­ber, Ent­wick­ler und Benut­zer soll­ten ein gleich­mä­ßi­ges Tem­po auf unbe­grenz­te Zeit hal­ten kön­nen.“ Genau das hat Amund­sen und sei­nem Team zum Sieg und Über­le­ben verholfen.

Lang­sam bedeu­tet nicht untä­tig, son­dern im Gegen­teil dort tätig zu sein, wo es lang­fris­tig einen Unter­schied macht. Es bedeu­tet aus dem Hams­ter­rad her­aus­zu­tre­ten und dar­über nach­zu­den­ken, ob das Hams­ter­rad über­haupt noch das geeig­ne­te Werk­zeug ist. Es bedeu­tet, Brän­de zu ver­hin­dern, anstatt von Lösch­ein­satz zu Lösch­ein­satz zu eilen. Es bedeu­tet, am Sys­tem zu arbei­ten und nicht nur im Sys­tem. Das erfor­dert das Durch­hal­te­ver­mö­gen eines Götz W. Wer­ner, des­sen Lebens­mot­to lau­te­te: „Beharr­lich im Bemü­hen, beschei­den in der Erfolgs­er­war­tung.“ Die­se lang­sa­me­re, auf nach­hal­ti­ge Ver­bes­se­rung aus­ge­rich­te­te Arbeit zahlt sich lang­fris­tig aus, wie Dan Heath in sei­nem lesens­wer­ten Buch „Upstream“ anhand zahl­rei­cher Bei­spie­le darlegt. 

An inch at a time, and then a yard, and then a mile, and even­tual­ly you find yours­elf at the finish line: sys­tems chan­ge. Be impa­ti­ent for action and pati­ent for outcomes.

Dan Heath in (Heath, 2020, p. 235)

Literatur

McKeown, G. (2021). Effort­less: Make it easier to do what mat­ters most (First edi­ti­on). Currency.

Heath, D. (2020). Upstream: How to sol­ve pro­blems befo­re they hap­pen. Ban­tam Press.

Titel­bild von David Dibert ver­öf­fent­licht auf Pexels.



Share This Post

Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar