Endlich wieder ein Workshop in Präsenz. Alle Utensilien für die Marshmallow-Challenge waren vorbereitet. Und als Bonus noch Material für das Kerzenproblem, das ich bisher noch nie in einem Workshop ausprobiert hatte. Der Karton stand griffbereit auf der Kommode im Flur. Vorher noch zwei Besprechungen im Homeoffice und in der darauffolgenden Lücke im Kalender wollte ich ins Büro fahren. Meine Tasche mit Laptop und dem unvermeidlichen Sammelsurium an Kabeln prüfte ich noch kurz vor Verlassen des Hauses. Ich hatte an meine Wasserflasche gedacht, an ein paar Snacks und sogar an meinen Firmenausweis. Das Handy in der Hand, um eine kurze Nachfrage im Chat zu beantworten, verließ ich das Haus, setzte mich ins Auto und fuhr ins Büro. Fast jedenfalls. Bis ich nämlich kurz vor dem Ziel feststellte, dass der Karton immer noch auf der Kommode stand.
Statt 25 Minuten betrug mein Fahrtweg an dem Tag knapp eine Stunde und ich kam recht gehetzt ins Büro und zu meinem Workshop, der dann aber ohnehin mit Verspätung startete, weil der Flug einiger Teilnehmer Verspätung hatte. Gestresst war ich aber trotzdem mehr als eigentlich notwendig. „Multitasking heißt, viele Dinge gleichzeitig zu vermasseln“ schrieb der Schweizer Journalist und Publizist Erwin Koch und beschrieb damit treffend die gerechte Strafe für meine Hast (die kurze Chat-Nachricht zwischen Tür und Angel war übrigens auch missverständlich und entwickelte sich dadurch in einen recht langen Thread).
Mein etwas längerer Fahrtweg ist zwar ärgerlich, aber es kam niemand zu Schaden. Bei Einsätzen der Navy Seals ist das anders, jede Unachtsamkeit kann das eigene Leben oder das Leben von Anderen gefährden. Und obwohl Geschwindigkeit bisweilen entscheidend für den Erfolg einer Mission sein kann, birgt überstürztes Handeln begünstigt durch eine gehörige Portion Adrenalin im Kampfeinsatz große Gefahren. Eine ganz wesentliche Leitlinie dieser Spezialeinheit der US Navy lautet daher:
Slow is smooth, smooth is fast.
Es geht dabei darum, die angemessene Geschwindigkeit zu finden und zu halten. Dieses scheinbar paradoxe Phänomen, dass langsam aber stetig schnell und erfolgreich sein kann, findet sich bereits bei Äsop in der Fabel vom Hasen und der Schildkröte. Und ein japanisches Sprichwort lautet: „Wenn du es eilig hast, gehe langsam. Wenn du es noch eiliger hast, mache einen Umweg.“ Auch im Wettrennen zwischen Scott und Amundsen um die erste erfolgreiche Expedition zum Südpol siegte das Team, das seine Geschwindigkeit auf ein nachhaltiges Maß beschränkte, wie Greg McKeown in seinem Buch „Effortless“ hervorhebt:
On December 12, 1911, the plot thickened: Amundsen and his team got within forty-five miles of the South Pole, closer than anyone who had ever tried before. They had traveled some 650 grueling miles and were on the verge of winning the race of their lives. And the icing on the cake: the weather that day was working in their favor. Amundsen wrote, “Going and surface as good as ever. Weather splendid — calm with sunshine.” There on the Polar Plateau, they had the ideal conditions to ski and sled their way to the South Pole. With one big push, they could be there in a single day. Instead, it took three days. Why? From the very start of their journey, Amundsen had insisted that his party advance exactly fifteen miles each day — no more, and no less. The final leg would be no different. Rain or shine, Amundsen “would not allow the daily 15 miles to be exceeded.” While Scott allowed his team to rest only on the days “when it froze” and pushed his team to the point of “inhuman exertion” on the days “when it thawed,” Amundsen “insisted on plenty of rest” and kept a steady pace for the duration of the trip to the South Pole.
Greg McKeown in (McKeown, 2021, p. 134)
Hand aufs Herz: Wer wäre in dieser Situation nicht wenigstens versucht gewesen, sich und das Team zur sprichwörtlichen Extra-Meile anzutreiben? Fast täglich versuche ich noch schnell etwas in meinen ohnehin schon übervollen Tag zu quetschen. Hier noch dies und dort noch jenes und zwischen Tür und Angel noch schnell die Chat-Nachrichten. Ein wenig mehr geht immer. Und zu tun, gibt es ohnehin mehr als genug.
Es fühlt sich wichtig an, beschäftigt zu sein, aber so richtig effektiv ist es nicht immer. In der Hektik passieren Fehler und es entstehen Missverständnisse und diese führen zu noch mehr Hektik. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht es zwingend Phasen zum Reflektieren und zum nachhaltigen Verbessern der Arbeitsweise. Deshalb nehmen sich erfolgreiche agile Teams genügend Zeit für Retrospektiven und beherzigen dieses in der Hektik oft überlesene Prinzip hinter dem Manifest für agile Softwareentwicklung: „Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können.“ Genau das hat Amundsen und seinem Team zum Sieg und Überleben verholfen.
Langsam bedeutet nicht untätig, sondern im Gegenteil dort tätig zu sein, wo es langfristig einen Unterschied macht. Es bedeutet aus dem Hamsterrad herauszutreten und darüber nachzudenken, ob das Hamsterrad überhaupt noch das geeignete Werkzeug ist. Es bedeutet, Brände zu verhindern, anstatt von Löscheinsatz zu Löscheinsatz zu eilen. Es bedeutet, am System zu arbeiten und nicht nur im System. Das erfordert das Durchhaltevermögen eines Götz W. Werner, dessen Lebensmotto lautete: „Beharrlich im Bemühen, bescheiden in der Erfolgserwartung.“ Diese langsamere, auf nachhaltige Verbesserung ausgerichtete Arbeit zahlt sich langfristig aus, wie Dan Heath in seinem lesenswerten Buch „Upstream“ anhand zahlreicher Beispiele darlegt.
An inch at a time, and then a yard, and then a mile, and eventually you find yourself at the finish line: systems change. Be impatient for action and patient for outcomes.
Dan Heath in (Heath, 2020, p. 235)
Literatur
McKeown, G. (2021). Effortless: Make it easier to do what matters most (First edition). Currency.
Heath, D. (2020). Upstream: How to solve problems before they happen. Bantam Press.
Titelbild von David Dibert veröffentlicht auf Pexels.
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