Wirklichkeit ist ein Konstrukt. Gemäß dieser Kernthese des radikalen Konstruktivismus konstruiert sich jeder seine subjektive Wirklichkeit aus seinen subjektiven Wahrnehmungen. Diese prinzipiell ungenaue Landkarte verwechseln wir mit der Wirklichkeit, weshalb wir sie nicht mehr ausreichend hinterfragen und aufgrund widersprüchlicher Wahrnehmungen anpassen. Stattdessen wird uns die Landkarte heilig und Unpassendes einfach passend gemacht: “Um so schlimmer für die Tatsachen!”, der Ausspruch des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, als er bei der Verteidigung seiner Dissertation mit der harten Realität eines kurz zuvor entdeckten achten Planeten unseres Sonnensystems konfrontiert wurde, welchen es seiner Theorie nach nicht geben hätte dürfen, wird zur (un)bewussten Devise.
Wenn aber dem einzelnen Menschen schon der direkte Zugang zur Realität verwehrt bleibt, ist dann zu erwarten, dass dies Unternehmen – von Menschen gemacht und von Menschen geführt – besser gelingt? Auch die Wirklichkeit eines Unternehmens ist ein Konstrukt. Unternehmen, und dazu zählen im weiteren Sinne auch Projekte, basieren auf Grundannahmen; sie bilden die Realität mehr oder weniger genau ab, bleiben aber immer genau das: Abbilder. Das ist notwendig und sinnvoll; die Probleme entstehen auch hier erst, wenn die Landkarte mit der Realität verwechselt wird. Widersprüchliche Erfahrungen werden dann ignoriert oder umgedeutet, anstatt die Landkarte anzupassen.
Da der Erfolg und Zweck eines Unternehmens immer ausserhalb seiner Grenzen liegt, ist die Landkarte der umgebenden Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung. Noch wichtiger ist es aber, diese Landkarte als Sammlung von prinzipiell vorläufigen Annahmen zu verstehen und diese daher immer wieder an den Erfahrungen zu messen und anzupassen. Bedingung dafür ist, dass die Grundannahmen explizit und von allen verstanden sind. Als Leitfaden kann folgende Gliederung der Grundannahmen von Peter F. Drucker dienen:
The assumptions about environment define, what an organization is paid for. The assumptions about mission define what an organization considers to be meaningful results; in other words, they point to how it envisions itself making a difference in the economy and in society in large. Finally the assumptions about core competencies define where an organisation must excel in order to maintain leadership. (Peter F. Drucker. Management Rev Ed. S. 90.)
Es gibt also die folgenden drei, voneinander abhängigen Kategorien:
- Annahmen über die Umwelt der Organisation: Die Gesellschaft und ihre Struktur, die Märkte, die Kunden und die Technologien.
- Annahmen über die spezifische Mission der Organisation: Der eigene Beitrag zur Wirtschaft und zur Gesellschaft, die notwendigen Resultate.
- Annahmen über die Kernkompetenzen zur Bewältigung der Mission: Die zur Erreichung der eigenen Beiträge notwendigen Fähigkeiten.
Was für die Führung eines Unternehmens sinnvoll ist, lohnt prinzipiell auch der Betrachtung im Kontext von Projekten. Die Projektmanagement-Essentials lassen sich so aus den drei grundlegenden Aufgaben von Management ableiten. Was die Arbeit an und mit den Grundannahmen betrifft, so glaube ich, dass es sich insbesondere in Projekten lohnt, diese zu Beginn explizit aufzustellen und im Laufe des Projekts kontinuierlich zu überprüfen und anzupassen.
Ausrichtung am Nutzen
Ein Projekt hat einen Zweck und dieser liegt immer ausserhalb im Nutzen für die Kunden. Die Mission und die Ziele eines Projekts lassen sich nur sinnvoll definieren, wenn bekannt ist, für was der Kunde eigentlich bezahlt. Und das sind nie die konkreten Lieferergebnisse des Projekts, sondern immer der Nutzen, den sich die Kunden daraus versprechen. Am vermuteten Nutzen, und nur daran, müssen sich die Ziele eines Projekts orientieren. Und der vermutete Nutzen muss kontinuierlich überprüft werden. Die Arbeit an den obigen Grundannahmen richtet das Projekt konsequent am Nutzen aus, indem die Annahmen über das Umfeld über den eigenen Beitrag, die Mission, hinführen zur Ausbildung passender Kernkompetenzen.
Wirksames Risikomanagement
Auch die gravierenden Risiken eines Projekts liegen im Umfeld; im Einflussbereich des Projekts liegen nur Maßnahmen. Je präziser die Annahmen über Umfeld, Kunden und deren Nutzen, die Mission und die dafür nötigen Kernkompetenzen sind, desto besser lassen sich die relevanten Risiken überhaupt erkennen. Je konsequenter eine kontinuierliche Überprüfung der Annahmen stattfindet, desto besser lassen sich Risiken beherrschen. Anders formuliert: Die Annahmen eines Projekts nicht, nicht ausreichend oder zu spät explizit zu machen und sie nicht kontinuierlich im Test mit der Wirklichkeit zu überprüfen, ist das generische Risiko eines jeden Projekts. Es wird eine Vielzahl spezifischer Risiken hervorbringen.
Die Frage ist wann, nicht ob!
Diese Annahmen existieren sowieso, schließlich konstruiert sich schon jeder Einzelne seine eigene individuelle Wirklichkeit. Die Frage ist nur wann im Projekt sie explizit werden und den Test mit der Realität bestehen oder eben nicht. Diese Annahmen beeinflussen das Projekt immer, aber nur wenn sie bekannt sind, lassen sie sich aktiv überprüfen und anpassen. Ansonsten werden sie auch überprüft, spätestens dann, wenn der Kunde mit den greifbaren Ergebnissen konfrontiert wird. Vielleicht liegt gerade hierin die Ursache für den großen Erfolg agiler Vorgehensweisen wie Scrum & Co: in der frühzeitigen und kontinuierlichen Konfrontation des Kunden mit den Ergebnissen und der damit einhergehenden Überprüfung der impliziten Annahmen.
PS. Foto veröffentlicht auf Flickr von Chuck “Caveman” Coker (Bestimmte Rechte vorbehalten)
2 Kommentare
Sehr guter Beitrag, zeigt er doch mal wieder auf, wie wichtig gute Kommunikation auch in Projekten ist. Projektmanagement wird oft auf die Planungs- und Controllingtechniken reduziert. Wenn’s schief läuft, liegt es aber selten an Defiziten auf diesen Gebieten.
Danke! Planung und Kontrolle sind für mich immer nur Werkzeuge, um Misserfolge zu vermeiden oder die Auswirkungen einzugrenzen. Um Erfolg zu haben braucht es mehr: insbesondere Führung und Kommunikation.