Moderne Zeiten 2.0

Wir leben in tur­bu­len­ten Zei­ten. Noch kön­nen wir zwar aus dem Vol­len schöp­fen, aber zukünf­tig wird die Zahl der Erwerbs­tä­ti­gen in Deutsch­land dra­ma­tisch zurück­ge­hen. Zugleich ver­än­dert sich die Art der Arbeit: immer weni­ger arbei­ten in der pro­du­zie­ren­den Indus­trie und immer mehr Men­schen arbei­ten in immer grö­ße­rem Maße als Wis­sens­ar­bei­ter, ihr Arbeits­ge­gen­stand ist zuneh­mend imma­te­ri­ell und digi­tal. Über die letz­ten Jah­re ent­stan­den im Inter­net neue und effek­ti­ve Zusam­men­ar­beits­for­men und jedem frei zugäng­li­che Werk­zeu­ge. Wel­che Aus­wir­kun­gen haben die­se drei Fak­to­ren, demo­gra­fi­scher, struk­tu­rel­ler und tech­no­lo­gi­scher Wan­del, zusam­men­ge­nom­men auf die Arbeits­wei­se in Orga­ni­sa­tio­nen und Unter­neh­men, die heu­te noch mehr­heit­lich wie im Indus­trie­zeit­al­ter orga­ni­siert sind. Wie wer­den wir zukünf­tig arbeiten?

Struktureller Wandel

Im Jah­re 1950 arbei­te­ten 25% der damals knapp 20 Mio. Erwerbs­tä­ti­gen in der Land­wirt­schaft, 42% in der (Industrie-)Produktion und 33% in Dienst­leis­tungs­be­ru­fen. Heu­te arbei­ten von den, mit über 40 Mio. mehr als dop­pelt so vie­len, Erwerbs­tä­ti­gen unter 2% in der Land­wirt­schaft, unter 25% in der Pro­duk­ti­on, aber bereits 74% in Dienst­leis­tungs­be­ru­fe (Quel­le: Sta­tis­ti­sches Bun­des­amt). Die Ver­la­ge­rung vom pri­mä­ren (Land­wirt­schaft) und sekun­dä­ren (Indus­trie) hin zum ter­tiä­ren Sek­tor (Dienst­leis­tung) ist offen­kun­dig. Dienst­leis­tung ist ein wei­tes Feld, aber es darf mit eini­ger Sicher­heit ange­nom­men wer­den, dass am Auf­stieg des ter­tiä­ren Sek­tors die Wis­sens­ar­beit eine ent­schei­den­de Rol­le spielt. So dif­fus der Begriff Wis­sens­ar­beit ist, wage ich zu behaup­ten, dass immer mehr Men­schen in Deutsch­land (und ande­ren Indus­trie­na­tio­nen) zu einem immer grö­ße­ren Teil imma­te­ri­ell und digi­ta­li­siert arbei­ten, d.h. das Pro­dukt ihrer Arbeit ist nicht phy­sisch greif­bar son­dern in digi­ta­ler Form.

Demografischer Wandel

Der­zeit befin­den wir uns mehr oder weni­ger auf dem Höchst­stand der Zahl der erwerbs­fä­hi­gen Men­schen in Deutsch­land. In Zukuft wird die Zahl der Erwerbs­fä­hi­gen deut­lich zurück­ge­hen. Schuld ist der demo­gra­fi­sche Wan­del, der einer­seits dazu füh­ren wird, dass die Bevöl­ke­rung in Deutsch­land ins­ge­samt abnimmt und ande­rer­seits zuneh­mend älter wird. Kon­kret pro­gnos­ti­ziert der Demo­gra­fie­be­richt des Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Inne­ren 2011 eine Abnah­me der Gesamt­be­völ­ke­rung von 81,7 Mio. im März 2011 auf 65 bis 70 Mio. im Jahr 2060 (in bei­den Wer­ten ist bereits eine Zuwan­de­rung von 100.000 bzw. 200.000 Men­schen jähr­lich eing­rech­net). Gleich­zei­tig wer­den antei­lig immer weni­ger Men­schen im erwerbs­fä­hi­gen Alter sein. Kom­men heu­te auf einen über 65-jäh­ri­gen noch zwei Men­schen im erwerbs­fä­hi­gen Alter (20 – 65 Jah­re), wird sich das Ver­hält­nis zwi­schen 2030 und 2040 umge­kehrt habe: auf einen Erwerbs­fä­hi­gen wer­den zwei Rent­ner kom­men. Ins­ge­samt wird die Zahl der Erwerbs­fä­hi­gen von knapp 50 Mio. heu­te auf 33 Mio. bis 36 Mio sin­ken. (ent­sprech­de Zuwan­de­rung schon wie­der eingerechnet).

Der Trend ist nicht mehr auf­zu­hal­ten und kann als Fakt betrach­tet wer­den oder mit den Wor­ten von Peter F. Drucker:

The future that has alre­a­dy happend.

Die­se Ver­knap­pung der Arbeits­ka­pa­zi­tät wird Fol­gen haben. Mit­ar­bei­ter, gera­de hoch­spe­zia­li­sier­te Wis­sens­ar­bei­ter, wer­den selbst­be­wuss­ter, sie wer­den zuneh­mend umwor­ben und Unter­neh­men müs­sen attrak­tiv sein. Eine fai­re Bezah­lung reicht bei Wei­tem nicht mehr aus: schon heu­te macht eine nen­nens­wer­te Zahl von Stu­den­ten die Wahl ihres Arbeit­ge­bers bei­spiels­wei­se davon abhän­gig, ob sie das Inter­net und Social Media am Arbeits­platz pri­vat nut­zen dürfen.

Technologischer Wandel

Als ich 1995 mein Stu­di­um begon­nen habe, war die schnel­le Inter­net­ver­bin­dung der Uni ein Luxus und es mach­te noch Sinn vor Ort im Rech­ner­raum der Uni zu arbei­ten. Mitt­ler­wei­le haben wir an vie­len (wenn auch lei­der nicht an allen) Orten schel­les und bezahl­ba­res Inter­net und die Rech­ner­räu­me in den Unis ver­wai­sen ver­mut­lich gera­de. Ähn­lich ver­hält es sich mit ande­ren Tech­no­lo­gien, die vor weni­gen Jah­ren auf­grund hoher Kos­ten nur in gro­ßen Orga­ni­sa­tio­nen sinn­voll ein­setz­bar waren. Rechen­leis­tung und Ser­ver kann jeder in weni­gen Klicks mie­ten. Video­kon­fe­ren­zen gibt es mitt­ler­wei­le bei Sky­pe und Goog­le+ umsonst. Vir­tu­el­le Zusam­men­ar­beit ist ein Kin­der­spiel und ent­steht ad hoc mit weni­gen Klicks. Jeden­falls im Pri­vat­be­reich. In Groß­un­ter­neh­men mit ent­spre­chend stan­dar­di­sier­ter IT-Land­schaft muss der Mit­ar­bei­ter auf vie­le lieb­ge­won­ne­ne und sinn­vol­le Tech­no­lo­gien verzichten.

Die­ser tech­no­lo­gi­sche Wan­del führt der­zeit dazu, dass die Pro­duk­ti­ons- und Kol­la­bo­ra­ti­ons­mit­tel jedem Wis­sens­ar­bei­ter zu ver­nach­läs­sig­ba­ren Kos­ten immer zur Ver­fü­gung ste­hen. Die im pri­va­ten gewohn­ten Werk­zeu­ge erwar­ten die zuneh­mend selbst­be­wuss­te­ren Mit­ar­bei­ter völ­lig zu Recht auch im Unter­neh­men. Nur ein tri­via­les Bei­spiel: Ein Goog­le-Mail Kon­to mit 7 GB Spei­cher ist kos­ten­los in weni­ger als 5 Minu­ten ein­ge­rich­tet, aber in gro­ßen Unter­neh­men wer­den Post­fä­cher auf 100 MB beschränkt und kön­nen nur über einen lang­wie­ri­gen Geneh­mi­gungs­pro­zess auf viel­leicht 200 MB erwei­tert werden.

Waren im Indus­trie­zeit­al­ter noch die Maschi­nen und die Infra­struk­tur die knap­pe Res­sour­ce, die opti­mal genutzt wer­den muss­te, neh­men die­se Rol­le heu­te die Mit­ar­bei­ter ein. War es also frü­her sinn­voll die Men­schen den Maschi­nen und der Infra­struk­tur unter­zu­ord­nen, um die­se Din­ge opti­mal zu nut­zen, ist es heu­te genau umge­kehrt: die Infra­struk­tur und die Maschi­nen müs­sen den Wis­sen­ar­bei­tern und deren Arbeits­wei­se die­nen. War es frü­her sinn­voll alle Mit­ar­bei­ter gleich­zei­tig in gro­ßen Gebäu­den und Fabri­ken zur Zusam­men­ar­beit zu ver­sam­meln, ist das heu­te für immer mehr Tätig­kei­ten nicht mehr notwendig.

Konsequenzen

Ich weiss nicht, ob es bes­ser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders wer­den, wenn es bes­ser wer­den soll.
– Georg Chris­toph Lichtenberg

Die demo­gra­fi­sche Ent­wick­lung ist unum­kehr­bar. Mehr denn je müs­sen wir die vor­han­de­ne Arbeits­kraft best­mög­lich nut­zen. Ins­be­son­de­re von Mit­ar­bei­tern die bei­spiels­wei­se aus famil­ä­ren Grün­den nicht Voll­zeit vor Ort arbei­ten kön­nen oder wol­len. Die zen­tra­le Her­aus­for­de­rung liegt mei­ner Mei­nung nach dar­in, die der­zeit noch zu stark zeit­lich und ört­lich syn­chro­ni­sier­ten Arbeits­be­din­gun­gen des Indus­trie­zeit­al­ters, d.h. 40h/Woche an einem gemein­sa­men Ort, zu trans­for­mie­ren in eine men­schen­freund­li­che­re, zeit­lich und ört­lich asyn­chro­ne Arbeitsweise.

Der struk­tu­rel­le Wan­del, d.h. dass immer mehr Men­schen zuneh­mend imma­te­ri­ell und digi­ta­li­siert arbei­ten, kommt uns hier­bei eben­so zu Gute wie der tech­no­lo­gi­sche Wan­del. Tat­säch­lich ent­wi­ckelt sich im Inter­net seit Jah­ren schon ein brei­tes Spek­trum an erfolg­reich erprob­ten Zusam­men­ar­beits­for­men und zuge­hö­ri­gen Tech­no­lo­gien. Man betrach­te nur die beacht­li­chen Leis­tun­gen der hoch­gra­dig ver­teil­ten Ent­wick­ler­netz­wer­ke in der Open-Source-Gemein­de, den Erfolg von Wiki­pe­dia oder auch Gut­ten­plag. Längst ist effek­ti­ve Zusam­men­ar­beit in zeit­lich und ört­lich asyn­chro­nen Sze­na­ri­en erprobt und eta­bliert – außer in (Groß-)Unternehmen.

Neben der Stra­te­gie hin zu zeit­lich und ört­lich asyn­chro­nen Arbeits­for­men, braucht es in ers­ter Linie einen Para­dig­men­wech­sel hin zu einer dies effek­tiv unter­stüt­zen­den Infra­struk­tur. Die Tech­no­lo­gie ist längst vor­han­den, die Arbeit wird immer digi­ta­ler und der Druck zur Ver­än­de­rung wird stei­gen. Unter­neh­men die die­sen Kurs­wech­sel hin zu zeit­lich und ört­lich extrem fle­xi­blen, an den Mit­ar­bei­tern aus­ge­rich­te­ten Arbeits­mo­del­len jetzt voll­zie­hen, sind gut gerüs­tet für den demo­gra­fi­schen Wan­del, die Zukunft die schon ein­ge­tre­ten ist.

Bild­nach­weis: Das Arti­kel­bild wur­de von Kevin Utting unter dem Titel „Modern Times?“ auf Flickr unter eine Crea­ti­ve Com­mons Lizenz (CC BY 2.0) ver­öf­fent­licht (Bestimm­te Rech­te vor­be­hal­ten).



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2 Kommentare

Bernhard Schloß 26. Dezember 2011 Antworten

Hal­lo Marcus!
Eine Anmer­kung zum demo­gra­fi­schen Wan­del: Das Phä­no­men ist unbe­strit­ten, aber ich glau­be, dass die Aus­wir­kun­gen etwas anders aus­fal­len wer­den, als erwar­tet, denn die­se demo­gra­fi­sche Ent­wick­lung ist v.a. ein west­li­ches, ins­be­son­de­re ein deut­sches Pro­blem. Frag mal bei den jun­gen Spa­ni­ern, Ita­lie­nern und Grie­chen nach, die einen Sprung in unser fros­ti­ges Deutsch­land erwä­gen. Ich habe den Ein­druck, dass die Kom­bi­na­ti­on aus Glos­ba­li­sie­rung und demo­gra­fi­shen Wan­del uns noch über­schen und viel­leicht auch for­dern wird.
Gruß aus dem Skiurlaub!
Bernhard

Marcus Raitner 27. Dezember 2011 Antworten

Hal­lo Bernhard,
vie­len Dank für die­sen Kom­men­tar. Mei­ne Aus­füh­run­gen beschrän­ken sich zunächst auf Deutsch­land. Da die Gebur­ten­ra­ten in den meis­ten west­li­chen Indus­trie­na­tio­nen ähn­lich zurück­ge­gan­gen sind wie in Deutsch­land, gehe ich davon aus, dass die Argu­men­ta­ti­on im wesent­li­chen auch für ande­re Län­der gilt. Genaue Zah­len ken­ne ich aller­dings nicht. Unwahr­schein­lich ist, dass die­se Ver­än­de­run­gen in allen Län­dern zeit­lich syn­chron ablau­fen. Inso­fern glau­be ich auch, dass uns noch Über­ra­schun­gen dro­hen wer­den. Ande­rer­seits ist im Demo­gra­fie­be­richt auch schon ein gewis­ses Maß an Zuwan­de­rung berück­sich­tigt (ein Sal­do von +100.000 bis +200.000 pro Jahr); sonst wären die Zah­len noch dra­ma­ti­scher. An mei­ner Kern­aus­sa­ge, dass der größ­te Hebel in der Wis­sens­ar­beit lie­gen wird und dass wir dort einen Wan­del hin zu zeit­lich und ört­lich asyn­chro­nem Arbei­ten erle­ben wer­den, ändert das aber nichts.
Herz­li­che Grü­ße und Ski Heil,
Marcus

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