Der grausame Optimismus persönlicher Produktivität

Persönliche Produktivität ist der grausam optimistische Versuch auf individueller Ebene die Folgen systematisch schlechter Organisation abzumildern.

Als Peter Dru­cker 1959 den Begriff der Wis­sens­ar­beit präg­te erkann­te er, dass Wis­sens­ar­bei­ter ihre Arbeits­mit­tel zwi­schen den Ohren tra­gen und sich dadurch die Macht­ver­hält­nis­se des Tay­lo­ris­mus umkehr­ten. Waren die unge­lern­ten Fließ­band­ar­bei­ter offen­sicht­lich auf die Fabrik mit ihren Fließ­bän­dern ange­wie­sen, ist nun zuneh­mend die Orga­ni­sa­ti­on auf die Wis­sens­ar­bei­ter ange­wie­sen und in gewis­ser Wei­se von deren Wohl­wol­len abhängig. 

Wis­sens­ar­bei­ter sind mobil und das ver­schafft ihnen Macht.

Rich­ti­ger­wei­se fol­ger­te Dru­cker: „Sobald sie über das Lehr­lings­sta­di­um hin­aus sind, müs­sen Wis­sens­ar­bei­ter mehr über ihren Job wis­sen als ihr Chef – sonst eig­nen sie sich über­haupt nicht.“ (Dru­cker, 2011, S. 16) Wis­sens­ar­bei­ter müs­sen folg­lich auf Augen­hö­he geführt wer­den, was dann eher dem Zusam­men­spiel von Diri­gent und Orches­ter ähnelt (Dru­cker & Macia­ri­el­lo, 2008, S. 72). Dar­aus ergibt sich zwangs­läu­fig ein hohes Maß an indi­vi­du­el­ler Auto­no­mie in der Aus­ge­stal­tung der eige­nen Wissensarbeit. 

Und damit began­nen die Probleme.

Der Tay­lo­ris­mus war von einer kla­ren Tren­nung von Den­ken und Arbei­ten gekenn­zeich­net: Der Mana­ger defi­nier­te und opti­mier­te die Abläu­fe und der Arbei­ter führ­te sie dann aus. Das gerin­ge Maß an Auto­no­mie für den ein­zel­nen Arbei­ter war zwar wenig moti­vie­rend, aber mit dem klas­si­schen Mana­ger war wenigs­tens jemand für die opti­ma­le Gestal­tung der Abläu­fe all­um­fas­send ver­ant­wort­lich. Mit der Auto­no­mie der Wis­sens­ar­beit wur­de auch Pro­duk­ti­vi­tät zur indi­vi­du­el­len Ange­le­gen­heit. Das gan­ze Feld der per­sön­li­chen Pro­duk­ti­vi­tät, das heu­te vie­le Regal­me­ter an Büchern füllt und The­ma von so vie­len Pod­casts und Arti­keln ist, macht über­haupt erst im Kon­text von auto­nom gestalt­ba­rer Wis­sens­ar­beit Sinn.


Natür­lich ist es kein Feh­ler sich selbst und sei­ne Arbeit gut zu orga­ni­sie­ren. Im Gegen­teil, gute Orga­ni­sa­ti­on kenn­zeich­net Pro­fes­sio­na­li­tät und Exzel­lenz aus. Doch es greift eben auch zu kurz, wenn Pro­duk­ti­vi­tät seit­her haupt­säch­lich als indi­vi­du­el­le Ange­le­gen­heit behan­delt wird ohne gleich­zei­tig an den sys­te­mi­schen Ursa­chen zu arbei­ten, auf die das Indi­vi­du­um aber nur wenig Ein­fluss hat. Die His­to­ri­ke­rin Lau­ren Ber­lat präg­te dafür im gleich­na­mi­gen Buch (Ber­lat, 2011) den Begriff des grau­sa­men Opti­mis­mus, den Johann Hari so beschreibt (Hari, 2022, S. 143): 

Man nimmt ein wirk­lich gro­ßes Pro­blem mit tief­grei­fen­den Ursa­chen in unse­rer Kul­tur – wie Fett­lei­big­keit, Depres­si­on oder Sucht – und bie­tet den Men­schen in opti­mis­ti­scher Spra­che eine ein­fa­che indi­vi­du­el­le Lösung an. Das klingt opti­mis­tisch, weil Sie ihnen sagen, dass das Pro­blem gelöst wer­den kann, und zwar bald – aber in Wirk­lich­keit ist es grau­sam, weil die Lösung, die Sie anbie­ten, so begrenzt und so blind für die tie­fe­ren Ursa­chen ist, dass sie bei den meis­ten Men­schen schei­tern wird.

Johann Hari

Wenn in der Orga­ni­sa­ti­on zu vie­le Pro­jek­te gleich­zei­tig lau­fen und wenn dar­über­hin­aus die dafür not­wen­di­ge Zusam­men­ar­beit im Wesent­li­chen auf Zuruf pas­siert, sei es phy­sisch über den Schreib­tisch im Büro, durch Bespre­chun­gen, E‑Mails oder Chat-Nach­rich­ten, lin­dert die indi­vi­du­el­le Pro­duk­ti­vi­tät nur die Sym­pto­me. Von „Get­ting Things Done“ und „Mind like Water“ kann der ein­zel­ne Wis­sens­ar­bei­ter in einer sol­chen unor­ga­ni­sier­ten Orga­ni­sa­ti­on nur träu­men. Statt­des­sen erlebt er täg­lich den gan­zen Wahn­sinn die­ses „hyper­ak­ti­ven Schwarm­be­wusst­seins“ (New­port, 2021) in einer auf „Pseu­do-Pro­duk­ti­vi­tät“ (New­port, 2024) opti­mier­ten Kul­tur, wo Betrieb­sam­keit sys­te­ma­tisch als Pro­duk­ti­vi­tät fehl­in­ter­pre­tiert wird.


Das alles war offen­sicht­lich schon ein Pro­blem bevor digi­ta­le Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gien in der Arbeits­welt Ein­zug hiel­ten, denn bereits 1967 stell­te Peter Dru­cker ernüch­tert fest: „Bespre­chun­gen sind ein Zei­chen für schlech­te Orga­ni­sa­ti­on, denn ent­we­der man arbei­tet oder man bespricht sich.“ (Dru­cker, 1967, S. 44) Seit­her wur­de es nicht bes­ser. Jede tech­ni­sche Inno­va­ti­on, ob E‑Mail, Chat, Smart­phones, mobi­les Breit­band-Inter­net, Video­kon­fe­ren­zen, uvm. ver­bes­ser­te lei­der kei­nes­wegs die defi­zi­tä­re Zusam­men­ar­beit, son­dern mach­te das Schwarm­be­wusst­sein nur noch hyper­ak­ti­ver: Laut einer Stu­die von Res­cue­Time aus dem Jahr 2018 prüft der durch­schnitt­li­che Wis­sens­ar­bei­ter sei­ne E‑Mails oder Chat Nach­rich­ten alle 6(!) Minu­ten und als Kon­se­quenz dar­aus schaf­fen 40 % der Wis­sens­ar­bei­ter weni­ger als 30 Minu­ten kon­zen­trier­ter Arbeit am Stück.

Das alles ver­schlim­mer­te sich über vie­le Jah­re der­art schlei­chend wie bei dem sprich­wört­li­chen Frosch im sich lang­sam erhit­zen­den Was­ser, dass es die Dis­rup­ti­on der Pan­de­mie brauch­te, um sich des­sen bewusst zu wer­den (New­port, 2024, S. 5): „Die Wis­sens­ar­bei­ter waren erschöpft – aus­ge­brannt von einer immer uner­bitt­li­che­ren Betrieb­sam­keit. Die Pan­de­mie hat die­sen Trend nicht ein­ge­lei­tet, son­dern viel­mehr sei­ne schlimms­ten Aus­wüch­se über die Gren­ze des Erträg­li­chen hin­aus­ge­trie­ben. Nicht weni­ge Wis­sens­ar­bei­ter, die plötz­lich remo­te arbei­ten muss­ten und deren Kin­der im Neben­zim­mer schrien, wäh­rend sie sich durch ein wei­te­res Zoom-Mee­ting quäl­ten, began­nen sich zu fra­gen: ‚Was machen wir hier eigentlich?‘ “

Inso­fern begrü­ße ich sehr die drei Prin­zi­pen in Cal New­ports neu­em Buch „Slow Pro­duc­ti­vi­ty“: Weni­ger Din­ge gleich­zei­tig tun, in einer nach­hal­ti­gen Geschwin­dig­keit arbei­ten und auf Qua­li­tät ach­ten. Weni­ger, aber bes­ser, wie der deut­sche Desi­gner Die­ter Rams einst sag­te. Die Beschrän­kung der „Work in Pro­gress“ ver­bes­sert den Fluss und erhöht den Durch­satz des Sys­tems, ins­be­son­de­re wenn die­se Beschrän­kung alle Ebe­nen der Orga­ni­sa­ti­on umfasst. Genau das soll­te das Ziel von Scrum oder Kan­ban sein und viel­leicht bin ich auch des­we­gen ger­ne Agi­le Coach, weil mir eben die „art­ge­rech­te Hal­tung“ von Wis­sens­ar­bei­tern so am Her­zen liegt. Lei­der wird Agi­li­tät nicht sel­ten nur auf Team-Ebe­ne zur Stei­ge­rung der Pro­duk­ti­vi­tät ein­ge­führt, ohne die sys­te­mi­schen Pro­ble­me der Orga­ni­sa­ti­on, allen vor­an die Über­las­tung durch zu vie­le gleich­zei­tig lau­fen­de Vor­ha­ben, zu betrach­ten. Dann ist auch die agi­le Trans­for­ma­ti­on ein Fall von grau­sa­mem Optimismus.

Literatur

Ber­lant, L. G. (2011). Cruel opti­mism. Duke Uni­ver­si­ty Press.

Dru­cker, P. F. (1967). The effec­ti­ve exe­cu­ti­ve: The defi­ni­ti­ve gui­de to get­ting the right things done (repr.). Harper.

Dru­cker, P. F. (2011). Manage­ment chal­lenges for the 21st cen­tu­ry (Clas­sic Dru­cker coll. ed., rev. ed). Routledge.

Dru­cker, P. F., & Macia­ri­el­lo, J. A. (2008). Manage­ment (Rev. ed). Collins.

Hari, J. (2022). Sto­len focus: Why you can’t pay atten­ti­on. Bloomsbu­ry Publishing.

New­port, C. (2021). A World Wit­hout Email Reim­agi­ning Work in an Age of Com­mu­ni­ca­ti­on Over­load. Pen­gu­in Publi­shing Group.

New­port, C. (2024). Slow pro­duc­ti­vi­ty: The lost art of accom­plish­ment wit­hout burn­out. Portfolio/Penguin.



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