Als Führungskraft braucht es heute mehr Fähigkeiten als nur die Karriereleiter möglichst weit hochzuklettern. Die Hierarchie ist ohne Frage eine angemessene Organisationsform, um das heutige und bekannte Geschäft effizient zu organisieren. Wenn es aber darum geht, adäquat auf den immer höher werdenden Veränderungsdruck in immer kürzerer Zeit zu reagieren, stößt die Hierarchie und stoßen klassische Change-Programme an Grenzen. John P. Kotter fordert daher, den Wandel als Normalzustand zu begreifen und schlägt dazu das Netzwerk als ein zweites Betriebssystem von Organisationen vor. Dieses Netzwerk liegt quer zur Hierarchie und ist organisiert als lose gekoppelte Initiativen von intrinsisch motivierten Freiwilligen. Es aufzubauen, es zu pflegen und darin auf Augenhöhe Beiträge zu leisten ist eine ganz wesentliche Aufgabe von Führung, um Organisationen in Zeiten des Wandel zukunftsfähig zu gestalten. Genau darum heißt die vierte These im Manifest für menschliche Führung „Beiträge zu Netzwerken mehr als Positionen in Hierarchien.“
Die Hierarchie als Organisationsform hat ihre Berechtigung und ihre Vorteile, wenn es darum geht das bekannte Geschäftsmodell nach definierten Prozessen und Rollen möglichst effizient zu organisieren. Um langfristig und nachhaltig erfolgreich zu sein, genügt das aber nicht. Es braucht neben dieser auf Stabilität und Effizienz ausgelegten Hierarchie für das heutige Geschäft auch eine Komponente, die für die Veränderung, die Verbesserung, das Neue und das Geschäft von Morgen zuständig ist. Traditionell fällt diese Rolle Strategieabteilungen, Change-Programmen, Taskforces u.ä. zu. Die Veränderung wird dadurch ein (temporärer) Teil der Hierarchie und mit den bekannten Methoden des Managements gesteuert. Für große Veränderungen mit bekanntem Ziel, beispielsweise die Einführung eines neuen Warenwirtschaftssystems, eines neuen Vergütungsmodells und ähnlichem funktioniert das nach den bekannten Verfahren des Change-Managements ganz ordentlich.
Die Grundannahme dabei ist allerdings, dass Strategie und strategische Entscheidungen die Aufgabe von wenigen Strategen und dem Top-Management sind und Veränderung eher die Ausnahme ist. Was aber wenn die Welt so volatil und die Märkte so schnell werden, dass die Veränderung zur Regel wird? Dann versagen diese hierarchischen Prozesse vom zentralen Erkennen und Bewerten der Chancen bis zum Aufsetzen eines strategischen Change-Vorhabens aufgrund ihrer den hierarchischen Entscheidungsprozessen geschuldeten Schwerfälligkeit. Um in einer solchen Welt erfolgreich zu sein, muss die Veränderung und das Neue – neben der Hierarchie zur effizienten Organisation des heutigen Geschäfts – zur zweiten Natur der Organisation werden, zum zweiten Betriebssystem, wie John P. Kotter das in seinem Buch „Accelerate“ beschreibt.
We cannot ignore the daily demands of running a company, which traditional hierarchies and managerial processes can still do very well. What they do not do well is identify the most important hazards and opportunities early enough, formulate creative strategic initiatives nimbly enough, and implement them fast enough.
John P. Kotter. Accelerate! in HBR November 2011
Die Idee hinter diesem Netzwerk als zweitem und gleichwertigem Betriebssystem ist es eine Armee von Freiwilligen quer zur Hierarchie zu rekrutieren. Die Aufgabe dieses Netzwerks ist es permanent an der Veränderung und Verbesserung in kleinen lose verknüpften Initiativen zu arbeiten. Dieses Netzwerk aus intrinsisch motivierten Menschen wird geleitet von einem starken gemeinsamen Sinn und dem gemeinsamen Verständnis der Notwendigkeit zur Veränderung. In diesem losen Rahmen der strategischen Ausrichtung können dann neue Initiativen und Stoßrichtungen entstehen, um Chancen schnell zu nutzen und gemeinsam permanent an der Veränderung und Verbesserung zu arbeiten.
Leadership is not a rank or a position, it is a choice – a choice to look after the person to the left of us and the person to the right of us.
Simon Sinek
Den Führungskräften des ersten Betriebssystem der Hierarchie kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Sie müssen neben ihrem Hauptjob als Manager des Tagesgeschäfts dafür sorgen, dass das zweite Betriebssystem des Netzwerks gut gedeiht und die Arbeit darin als gleichwertig und wichtig angesehen wird. Hier ist Führen mit Sinn und Vertrauen gefragt. Zunächst braucht es Orientierung durch einen gemeinsamen Sinn und eine gemeinsame Vision, wozu die Menschen von ganzem Herzen ja sagen können und wozu sie gerne freiwillig einen Beitrag leisten wollen. Dann braucht es die Erlaubnis und den Freiraum, in diesem Netzwerk tätig zu werden. Und ansonsten braucht es einfach Vertrauen in die Kreativität und den Gestaltungswillen dieser Armee der Freiwilligen. Ohne hierarchische Macht hält nur das Vertrauen dieses Netzwerk zusammen und lässt die Zusammenarbeit produktiv und wirksam werden. Und Vertrauen entsteht durch großzügige Beiträge zum Netzwerk. Darum heißt die vierte These im Manifest für menschliche Führung „Beiträge zu Netzwerken mehr als Positionen in Hierarchien.“
5 Kommentare
Interessanter Artikel!
Ich würde mir nur noch sehr wünschen, dass alles Preußisch-Militärische vollständig aus dem Bild und der Sprache einer modernen Organisation verschwinden würde. Auch macht es für mich eher weniger Sinn, die für solche Aufgaben prädestinierten Wissensarbeiter zu „rekrutieren“. Nein, sie müssen in den uniformen Reihen der „Gefreiten“ von Führungskräften entdeckt und individuell gestärkt werden. Vermutlich gar keine so schwere Management-Aufgabe im Verhältnis zu anderen – vorausgesetzt, die Notwendigkeit ist erkannt.
Eine Frage bleibt: wie sieht ein gesundes (Mächte-)Verhältnis zwischen den beiden Betriebssystemen aus?
Danke für die Anmerkung. Ich habe mir tatsächlich auch lange überlegt, ob ich John Kotter mit der „Armee der Freiwilligen“ so zitiere (rekrutieren war dann nur die logische sprachliche Konsequenz davon). Besser passen würden eine „Bewegung der Freiwilligen“ … Idealerweise ist das Machtverhältnis paritätisch, aber das ist meiner Meinung nach utopisch: Die Hierarchie ist das Dominante im Moment. Das war der Hintergedanke bei dieser These des Manifests: „Beiträge zu Netzwerken mehr als Postitionen in Hierarchien.“
Ja,. „Bewegung von Freiwilligen“ klingt doch deutlich ziviler! Danke für die realistische Einschätzung bzgl des Gleichgewichts, das scheint im Moment noch genau so zu sein.
Hallo x‑1, hallo Marcus,
nach meinem Erkenntnisstand ist das Militärische genau so wie die klerikale Hierarchie eine Evolutionsstufe in der Zusammenarbeit.
Sie dient dazu eine (erste) Ordnung herzustellen, von der aus etwas erwachsen kann.
Wenn dieses „etwas“ dann „flügge“ wird, dehnt sich der Raum aus, den „es“ einnehmen kann und will – Stufe 3.
Wenn das dann „überhand“ nimmt, konzentriert „man“ sich auf das Wesentliche – Stufe 4 – in dem man zum Teilhaben einlädt.
Das heraus gearbeitete „wahre“ Wesen, die Essenz, wird dann in Stufe 5 als Impuls, als Anstoß an die Umwelt abgegeben wo es wieder etwas Neues (Stufe 1) erzeugen kann.
Das hier angebotene Bild der Struktur über der Struktur passt daher für mich.
Der Prozess (#ORG Stufe 1 – 5) vollzieht sich in einem Personen‑, Produkt‑, Projekt- oder sonstigen Kontext und verläuft zeitlich parallel zu anderen Entwicklungen.
Eine Organisation ist selten in genau einem Zustand.
Wenn Fachbereiche sehr groß oder für bestimmte Abschnitte (wie Produktentwicklungen) zuständig sind, dann kann man den Eindruck gewinnen, „alle“ seien auf einer Stufe.
Buchhaltungen bspw. sind dem Wesen nach eher struktur-lastig. Das muss aber keinesfalls als HORG abgebildet werden.
Ich arbeite gerade an der Agilisierung einer Bank-Prozess-Tochter – ja, das geht.
Danke für deine Einordnung in die Entwicklungsstufen. Sehr interessant.