Wenn meine Kinder achtlos auf eine befahrene Straße laufen, halte ich sie natürlich zurück. Bei unmittelbarer Gefahr ist dieser massive Eingriff in ihre Freiheit gerechtfertigt. Kurzfristig jedenfalls. Langfristig werde ich aber nicht immer und an jeder Straße neben ihnen stehen können und brauche daher eine Strategie, die auf Verständnis von Zusammenhängen und Eigenverantwortung basiert. Ähnliches gilt für übermäßigem Konsum von Zucker, wo Verbote auch nur in den ersten Jahren helfen bis die Kinder die kognitive Reife für das nötige Verständnis der Zusammenhänge haben und selbst Verantwortung für ihre Ernährung übernehmen können.
Disziplin erhält man durch Selbstorganisation und Eigenverantwortung, durch Disziplinierung bekommt man nur Gehorsam.
Gerald Hüther
Bei Veränderungsprozessen in der Gesellschaft und in Organisationen ist das genauso: Erst auf Basis von Selbstorganisation und Eigenverantwortung (und dem authentischen Vorbild von Führung) entsteht nachhaltige, weil von Sinn geleitete Veränderung von Verhalten. Genau das bräuchten wir jetzt zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland. Tatsächlich erleben wir aber immer noch eine Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten, die wie besorgte Eltern reflexhaft ihre Kinder ob der drohenden Gefahr wieder von der befahrenen Straße zurückziehen.
Was im Frühjahr noch angemessen war, nutzt sich auf Dauer aber sehr schnell ab. Irgendwann hören die Kinder einfach nicht mehr hin, wenn sie dauernd angeschrien werden. Und ganz sicher fördern diese massiven Eingriffe nicht die Eigenverantwortung, sondern unterbinden im Gegenteil das eigene Denken. Die da oben werden es schon wissen. Die Zeit der Appelle und Gebote ist seit dem Frühjahr vorbei und über den Sommer wurde es versäumt, auf eine langfristige Strategie auf Basis der Selbstorganisation und Eigenverantwortung mündiger Bürger (Ausnahmen bestätigen auch hier nur die Regel) umzuschwenken.
Nur wenn ein Mensch Sinn in dem erkennt, was er machen soll, kann er hinreichende Selbstdisziplin entwickeln.
Gerald Hüther
Die Menschen wollen nicht länger wie unartige Kinder behandelt werden. Ich habe es satt von unserer Regierung, ermahnt, bedroht und gelegentlich auch gelobt zu werden. Die Situation ist äußerst komplex im eigentlichen Sinn des Wortes, viel komplexer als das Überqueren einer Straße jedenfalls. Wir alle, auch die Regierung und die Wissenschaft, haben mehr Fragen als Antworten. Und dort wo es Antworten gibt, sind sie oft nicht eindeutig und widersprüchlich. Ein Beispiel von vielen: Spielt ein einfacher Mund-Nasen-Schutz eine wesentliche Rolle bei der Eindämmung? Oder schadet das lange oder falsche Tragen ungeeigneter Masken vielleicht sogar? Die Forschung ist unübersichtlich und das ist vollkommen normal so (vgl. dazu den im August in The Lancet erschienen Übersichtsartikel).
Die Komplexität der Pandemie ist inhärent und geht nicht weg. Da hilft es auch nicht, wenn Markus Söder gern den erfahrenen Kapitän und harten Krisenmanager mimt. Im Gegenteil, dieser besserwisserische, gönnerhafte und bisweilen arrogante Gestus des oberlehrerhaften Retters untergräbt genau die Selbstorganisation und Eigenverantwortung, die wir für eine nachhaltige Eindämmung eigentlich bräuchten. Am Ende kann die Regierung nämlich nicht neben jeden der 80 Millionen Deutschen stehen und sie vor sich selbst „beschützen“ (auch wenn die Vorstellung dem einen oder anderen Innenminister durchaus gefallen dürfte).
Die Eindämmung der Pandemie ist ein Marathon und kein Sprint – auch nicht zwei oder drei Sprints. Das Ziel lautet daher nicht Gehorsam, sondern Eigenverantwortung. Den unartigen Bürgern permanent die steigenden Fallzahlen vorzuhalten und mit einem erneuten Herunterfahren des öffentlichen Lebens zu drohen, wenn sie weiter steigen sollten, oder gar mit „einsamen Weihnachten“, wie Markus Söder es mit erhobenem Zeigefinger formulierte, hilft dafür aber ganz und gar nicht, sondern erzeugt hauptsächlich Angst, Missmut und Widerstand.
Kinder sind in diesem Punkt genau wie Erwachsene: Wir wollen, wenn irgend möglich, gern kooperieren, aber wir haben es nicht gern, wenn wir durch Manipulation dazu gebracht werden.
Jesper Juul
Ein wenig mehr Demut angesichts der Komplexität der Lage einerseits und Respekt vor dem mündigen und in den meisten Fällen sehr umsichtigen Bürgern andererseits stünde unserer Regierung gut zu Gesicht. Ehrlicher und kraftvoller wäre nach der Sommerpause das Eingeständnis gewesen, dass die Lage komplex und vieldeutig ist und auch die Regierung und ihre Berater die Ursachen für den Anstieg der Fallzahlen nicht genau kennen. Das Verhalten der Bürger wäre dann nur noch ein Faktor, ein wie jedes Jahr saisonal ansteigende Infekte der Atemwege ein anderer. Und natürlich hätte man dann auch selbstkritisch hinterfragen können, ob wir überhaupt das Richtige in der richtigen Weise messen und die richtigen Kennzahlen betrachten.
Anstatt einfach dem Bürger und seinem Fehlverhalten die alleinige Schuld für die gestiegenen Zahlen zuzuschreiben, hätte man dann eben auch vor der eigenen Türe kehren können und deutschlandweit standardisieren können, unter welchen Umständen genau (Teststrategie), welcher Test auf welche Weise genau (welches Gen oder welche Gene) mit welcher Zyklenzahl anzuwenden ist (vgl. dazu diesen ausführlichen Artikel oder diesen der New York Times). Und man hätte sich aussagekräftigere Kennzahlen als die einfache 7‑Tages-Inzidenz überlegen können (wie dies zuletzt von vielen Ärzteverbänden und Wissenschaftlern in einem Positionspapier gefordert wurde).
In einem solchen Gesamtpaket wäre ein Herunterfahren des öffentlichen Lebens dann ein Teil einer gemeinsamen Anstrengung und langfristigen Strategie und hätte nicht den faden Beigeschmack der Maßregelung. Mit einer etwas demütigeren Haltung könnte man zudem den vielen abstrusen Verschwörungstheorien ganz leicht dadurch das Wasser abgraben, dass man andere Interpretationen der Situation und der Zahlen – die angesichts der Komplexität völlig normal sind – nicht besserwisserisch beiseite wischt oder einfach ignoriert, sondern konstruktiv in diese Strategie integriert.
18 Kommentare
Präzise! Ein Volk wurde entmündigt. Lustvoll würde Lustfeindlichkeit grandios praktiziert. Das Krisen- und Projektmanagement dagegen war stümperhaft.
Das beschreibt die Lage ganz gut, lieber Roland.
Deine Thesen passen sehr gut für Teams mit gemeinsamen Werten und Zielen. Du, ich und viele andere teilen ähnliche Werte. Wir sehen in der Bewältigung der Krise ein gemeinsames Ziel. Und wir gehen sehr verantwortungsvoll mit uns und unseren Mitmenschen um. Mir fehlt in Deinen Ausführungen noch ein Vorschlag, wie wir als (sehr großes) Team mit den Menschen umgehen sollen, die immer noch keinen Abstand halten, die immer noch nicht verstanden haben, dass ein Mund-NASEN-Schutz erforderlich ist und die sich bis zum Einsetzen der massiven Einschränkungen in dichten Trauben vor Skiliften gedrängt haben. Sie gefährden nicht nur sich, sondern sehr viele andere Menschen. Und es scheint ihnen egal zu sein. Wie würde ein erfahrener Scrum Master mit Teammitgliedern reden, die sich wiederholt so verhalten?
Ich zitiere an der Stelle Taichii Ohno, bzw. die Geschichte die Yoshihito Wakamatsu, der viele Jahre direkt unter Taiichi Ohno arbeitete, beschrieb: Bei einem Besuch in einem Werk von Toyota wurde Ohno von einem anderen Manager begleitet. Diesem fielen dort offensichtliche Fehler in der Umsetzung des Toyota-Produktionssystems auf und so fragte er Ohno, warum dieser nicht sofort korrigieren eingegriffen hätte. Die Antwort war:
Wenn wir solche Abweichungen bemerken, sind das nur Symptome eines tieferliegenden Missverständnisses bzw. Unverständnisses. Da müssen wir ran. Und so wie derzeit agiert und kommuniziert wird, kommen wir da aber nicht ran. Im Gegenteil: Sobald der Zwang wegfällt, geht die Party weiter.
Lieber Marcus,
Vielen Dank für diese fundierte Positionierung.
Ich stimme in allen wesentlichen Punkten zu.
Aber auch klar ist, dass das Thema dazu verleitet, auf allen Ebenen diskutiert zu werden. Ich denke, das war dir klar :-).
Ich empfehle dazu aber, sich wirklich wirklich auf die Suche nach fundiertem Wissen zu begeben. Sprich in den Rohinformationen von Herstellern, Laboren und Krankenhäusern, gerne auch RKI zu recherchieren:
Kann ein PCR-Test eine Infektion/ Erkrankung diagnostizieren bzw. was genau weist ein PCR-Test nach und was nicht?
Welche Fehlerquote hat ein (aktuell nicht unter Forschungsbedingungen massenhaft durchgeführter) PCR-Test?
Wie sieht eine saubere, fundierte Statistik aus, um die Letalität eines Virus zu berechnen und wie wird sie gerade berechnet? Wie ist sie im Vergleich zur üblichen Influenza etc?
Haben wir in 2020 eine Situation gehabt oder droht uns Eine, in der das Gesundheitssystem auch nbur in die Nähe seiner Grenzen kommt?
Auch hier tut sich die ganze Komplexität der Realität auf. Mit jedem, der mit fundierten ZDF’s kommt, steige ich gerne tiefer ein.
Viel Grüße
Rainer
Lieber Rainer, danke für deine Zustimmung und deine sehr guten Fragen. Genau die treiben mich auch um. Und ich vermisse Antworten darauf. Hast du gute Links für den Einstieg?
Der PCR-Test ist absolut genau. Es werden zwar gelegentlich Fehler bei der Entnahme oder im Labor gemacht, aber das ist angesichts von abermillionen Testungen nicht relevant.
https://www.volksverpetzer.de/corona-faktencheck/pcr-tests-genau/
Es ging mir weniger um den Test als solchen, sondern um die Aussagekraft durch die Art und Weise wie er eingesetzt wird.
Sehr gut zusammengefasst, Marcus.
Man hört heutzutage viel zu wenig konstruktives über die Meta-Ebene und zu viel Scharmützel über „falsche“ Zahlen.
Vielen Dank, Oliver. Geht mir ähnlich.
„Die Zeit der Appelle und Gebote ist seit dem Frühjahr vorbei und über den Sommer wurde es versäumt, auf eine langfristige Strategie auf Basis der Selbstorganisation und Eigenverantwortung mündiger Bürger (Ausnahmen bestätigen auch hier nur die Regel) umzuschwenken. “
Da halte ich es mit Herfried Münkler: Große Teile des Volkes sind dumm! Und so muss man sie auch behandeln!
https://www.deutschlandfunkkultur.de/politikwissenschaftler-herfried-muenkler-grosse-teile-des.990.de.html?dram:article_id=371845
„Wir alle, auch die Regierung und die Wissenschaft, haben mehr Fragen als Antworten.“
Nein, ich nicht. Ich höre von Beginn an den Drostenpodcast im NDR, lese täglich das Ärzteblatt, Spektrum der Wissenschaft und Nature. Ich fühle mich sehr gut informiert und sehe übnerhaupt keine offenen Fragen. In meiner Umgebung hingegen sind die Leute überrascht dass „jetzt auf einmal“ die Fallzahlen steigen, obwohl Modellierer das bereits im April prognostiziert haben. Auch der zweite Shutdown war von Wissenschaftlern garantiert worden. Und noch überraschter sind Durchschnittsmenschen wenn ich ihnen erkläre dass die Zahlen von heute das Infektionsgeschehen von vor 10 Tagen und wiedergeben. Und dass man daraus berechnen kann wie voll die Intensivstationen in 20 Tagen sein werden. Spoiler: Sehr voll, denn im Schnitt benötigt ein Covid-Patient 36 Tage Intensivbetreuung. Manche sogar ein halbes Jahr.
Und dadurch dass mindestens 30 Prozent der Infektionen asymptomatisch und wohl weitere 20 Prozent monosympthomatisch verlaufen und die sympthomatischen Verläufe drei Tage ansteckend sind bevor sie etwas merken, ist die Seuche ein Problem. Und ja, es kann sein dass die aktuelle Situation noch zwei bis drei Jahre dauert. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, wenn wir nicht die chinesische Bekämpfung wählen.
Meine tiefste Überzeugung ist: Es gibt keine Eigenverantwiortung in Deutschland. Egal ob Klimawandel, Feinstaub oder die Seuche: Die Leute sind einfach auf Konsum und Normalitätssucht getrimmt. Ich kenne kaum jemanden der sich wie ich täglich mehrere Stunden mit Politik als Hobby/Lebensinhalt beschäftigt.
Und hier noch eine studie dazu: „Bevölkerungsschutz-Forscher der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften haben in einer breit angelegten Studie 7.200 Verhaltensweisen von Menschen in Deutschland während der Corona-Krise analysiert und einen potenziellen Krisenkatalysator festgestellt: 50 Prozent der Teilnehmenden beschreiben zwar einen prosozialen Umgang mit der aktuellen Situation, bei den anderen 50 Prozent überwiegt aber antisoziales und egoistisches Verhalten.“
https://www.akkon-hochschule.de/newsreader/verhalten-in-der-corona-krise-50-prozent-der-menschen-in-deutschland-reagieren-egoistisch.html
Danke für die interessanten Links. Ich fühle mich auch gut informiert, aber in meinem Kopf ergibt das noch kein schlüssiges Bild, sondern viele Widersprüche, angefangen bei der Frage, ob wir das richtige in der richtigen Weise messen, über wie groß das Problem wirklich ist bis hin zu welche Maßnahmen wirklich wirken.
Man könnte regionale(!) Übersterblichkeiten messen, dauerhafte Erwerbsminderung durch anhaltende Organschäden oder Frühverrentungen. Oder verlorene Lebensjahre. Das reflexhafte Entgegenhalten von wirtschaftlichen Schäden halte ich nicht nur für unethisch, sondern auch für dumm. Denn wer dauerhaft arbeitsunfähig oder verstorben ist, kann sowieso nicht am wirtschaftlichen Leben teilnehmen.
Die Politik hat leider zwei große Probleme: Zum einen dass es kein Handbuch „Pandemie für Dummies“ gibt in dem man nachschlagen könnte was zu tun ist. So bleibt ihr nur auf Sicht zu fahren. Und das ist bisher eigentlich ganz gut gelungen. Zum anderen fehlt der Politik der Mut der Bevölkerung klar zu sagen was Phase ist.
Wir wissen nämlich ziemlich genau wie die Leute sich anstecken: Durch stehende Aerosole.
Und auch in welchen Situationen: Wenn die Leute sich vertraut sind und gesellige Runden ohne Abstand veranstalten.
Die Diskussion ob das nun in Schulen, auf Hochzeiten, Geburtstagen, im Theater, im Restaurant, auf der Arbeit oder im ÖPNV auf dem Weg dorthin passiert ist sinnlos. Wenn man den Leuten die Möglichkeit nimmt, ist die Ansteckungsgefahr auf jeden Fall gemindert.
Ich bin mir absolut sicher dass ein Doktor in Physik dabei hilft Expotentialrechnung zu verstehen, man muss die Schlussfolgerung aber auch prägnant erläutern. Schließlich liest nicht jeder den RKI-Bericht und kann sich abstrakt vorstellen welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind.
Würde täglich gesagt wir brauchen für die heutigen 20.000 Neuinfektionen in 30 Tagen ca. 1000 Intensivbetten und 3000 Überwachungsbetten, sähe die Welt vielleicht anders aus.
Puh: „Die meisten Bürger sind einfach zu dumm und müssen geführt werden.“
Wenn dem so ist, warum lassen wir dann diese Dummen überhaupt wählen?
PT 1
Hallo Marcus, ich möchte ein paar kritische Punkte zu deinem Artikel anmerken. Zunächst wollte ich die entsprechenden Faktenchecks auffahren, doch Titus von Unhold hat das wichtigste bereits gepostet.
Vorweg nur dies: So wie sich für mich die Lage heute darstellt, sind alle Fragen zum Thema Diagnostik und Teststrategie hinreichend geklärt. Alle Voraussagen zum Verlauf der aktuellen 2. Welle waren bereits im Frühjahr von allen relevanten Expert:innen vorausgesagt. Allein, man wollte nicht hören. Ebenso ist es mMn irrelevant darüber zu streiten, wie die exakte Verteilung von asymptotischen, leichten und mittleren Fällen gegenüber schweren Fällen ist. Die Messlatte dafür, wie gefährlich die Pandemie wirklich ist, ist die Belegung der Intensivbetten. Und die sind voll. Wir haben es also mit einer Pandemie zu tun.
Über geeignete Maßnahmen und ihre Wirkung ließe sich bis vor ein paar Monaten auch noch diskutieren, aber da ist der Drops auch schon gelutscht. Wie mein Vorschreiber Titus von Unhold anmerkt: es sind die sozialen Kontakte, die die Pandemie treiben. Also müssen diese unterbunden werden. Nur wie? Und vor allem: Wie müsste in dieser Situation darüber kommuniziert und entschieden werden?
Als Agile-Fan folge deiner Arbeit und deinen Ausführungen stets mit Neugierde und bin dir dankbar für deine stets frische Impulse. Daher war ich auch sehr gespannt auf deine Kritik am Vorgehen der Regierenden. Ich muss gestehen, dass mich die Alternativen, die du in deinem Artikel aufzeigst, nicht überzeugen.
Zunächst hakt es bereits bei deiner Einschätzung der derzeitigen Situation. Wir befinden uns nicht in einem Veränderungsprozess, der möglichst nachhaltig gestaltet werden kann. In “herkömmlichen” Transformationssettings gibt es zunächst ein Phase der Ist-Analyse, aus dieser werden dann mögliche Maßnahmen abgeleitet. Dann kann man anfangen das System danach auszurichten, am besten durch Selbstorganisation und Eigenverantwortung.
PT 2
In diesem Fall haben wir es aber nicht mit einer Situation zu tun, in der das System nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung kommt, dass sich etwas ändern muss. Um bei deinem Bild des Kapitäns zu bleiben: Wir hatten es mit einem rasch aufziehenden Unwetter zu tun, dann folgten ein paar entspannte Sonnentage. Und jetzt kommt nochmal ein richtiger Sturm. Zufällig konnte ich bereits die Erfahrung machen, wie sich eine Segelcrew im Sturm auf dem Nordatlantik zu verhalten hat: Alle hören auf den Kapitän, auch wenn er nicht der freundlichste ist. Wenns vorbei ist, sind die harten Worte vergessen, dann kann wieder Selbstorganisation und Eigenverantwortung einkehren. Was zählt ist eben doch: Der Gehorsam. Oder in unserem Pandemiefall: auf Expertinnen sollte man hören. Wenn es vorbei ist kann man immer noch darüber streiten, was genau zu welchem Zeitpunkt wirklich nötig gewesen wäre.
Ich stimme dir in der Diagnose zu, dass sich Widerstand, Angst und Missmut in der Bevölkerung regt. Ich teile aber nicht deine Meinung, dass eine von grundauf falsche Kommunikation hauptursächlich dafür ist. Unsere freien Gesellschaften waren einfach zu keinem Zeitpunkt darauf vorbereitet, obwohl es mahnende Stimmen gab. Diese Pandemie negiert ziemlich viel von dem, was uns wichtig ist (Freiheit viele Dinge zu tun und zu sagen und dabei von möglichst niemandem gestört zu werden).
Eine Reaktion auf das Erleben in der Pandemie ist verständlicherweise getrieben von Angst und Abwehr. Es führt aber in die Leere, wenn die handelnden und entscheidenden Personen alleinig dafür verantwortlich gemacht werden. Ursache sind eigentlich Existenzängste, die in einer konsumgetriebenen Gesellschaft bisher vorzüglich überlagert werden konnten von dem neuesten Dings und Bums.
Nach diesen Widerworten will ich noch mein aufrichtiges Interesse darüber zum Ausdruck bringen, was du über die augenscheinlichen Grenzen von Agilität denkst, die ich versucht habe aufzuzeigen. Inwiefern ist es möglich, in einem so vernetzten System in einer akuten existentiellen Krisensituation auf Eigenverantwortung und Selbstorganisation zu setzen? Stößt Agilität dort (zumindest temporär) an seine Grenzen? Oder ist Agilität immer ausschließlich die “beste Lösung” (Langfristig sicherlich, aber kurzfristig?)? Welchen Wert kann “Solidarität” (Ich würde diese Lesart gerne deinem “Gehorsam” entgegenstellen) im Kontext von agilen Systemen einnehmen?
Es würde mich freuen, dazu ein paar Zeilen von dir zu lesen!
Lieber Ansgar, vielen Dank für deinen Kommentar, der fast schon ein eigener Blogpost ist. Für mich ist es keine Fragen, dass wir diese Krise nur mit Eigenverantwortung und Selbstorganisation bewältigen können. Alle Maßnahmen stehen und fallen damit, dass die Bürger sie mittragen und das geht eben besser mit der Disziplin, die sich aus Überzeugung und Verständnis speist als mit Gehorsam aus Angst vor Disziplinierung. Man kann ja nicht alle Bürger permanent überwachen auch nicht, wenn man laut darüber nachdenkt, Fehlverhalten der Nachbarn bei doch ruhig bei der Polizei zu melden …
Die bisherige Kommunikation der Regierung hilft meiner Meinung nach nicht diese Eigenverantwortung zu kultivieren. Kurzfristig mögen Befehle, Verordnungen und Appelle helfen; langfristig (und das meinte ich mit nachhaltiger Strategie) reicht das aber nicht. Die Widerstände, die wir beobachten (und ich meine nicht die aluthutragenden Verquerdenker) sind eine Konsequenz dieser Ansprache und des Versagens die Situation verständlich zu kommunizieren.
Es ist nämlich leider nicht so einfach wie mit deinem Sturm. Die Situation ist weitaus komplexer und deshalb gehen die Interpretationen der Lage und der Maßnahmen auch auseinander. Die Situation ist aber ohne Frage ernst, da sind wir uns alle einig. Und weil sie so ernst ist, erwarte ich von unseren Experten und der Regierung auch, dass sie sich neben all den Maßnahmen auch überlegen, wie der Ernst der Lage möglichst gut erfasst werden kann. Bisher schauen wir nur auf die Sieben-Tage-Inzidenz und die hängt massiv von der Teststrategie und den Tests ab. Und da hätte ich genau diesselben Fragen, wie sie Simon Hegelich in seinem Artikel schön ausgearbeitet hat.
Gerade weil die Situation komplex ist, geht es nicht ohne Agilität. Und die verlangt ein empirisches Vorgehen und dafür brauchen wir eine gute Datenbasis. Wenn wir aber gleichzeitig mit den Maßnahmen wieder die Teststrategie ändern, wie jüngst wieder passiert, wie wollen wir jemals wissen, ob wir richtig unterwegs sind oder falsch abgebogen?
Lieber Marcus,
vielen Danke für Deine Sicht auf Selbstorganisation. Ich beobachte auch seit Beginn der Pandemie, wie wir seitens Politik und Medien mit Fakten versorgt werden, aber auch eben nicht versorgt werden. Peter Scholl-Latour sagte zu seinen Journalistik-Studenten immer wieder: „Schaut genau hin, wer am meisten beschimpft wird. Das sind in der Regel die Guten.“. Und wenn ich mir dann anschaue, wie viel Beschimpfung gerade Jene erhielten, die auch auf die verschwiegenen Fakten hinweisen, so bemerke ich in diesen wirren Zeiten einen extremen Mangel an Debatte, die doch so notwendig ist, wenn komplexe Situation zu beleuchten sind.
Da oben schrieb Jemand, dass der überweigende Teil der Menschen zu dumm sei und ihm daher Befehle zu erteilen seien, sprich er gehorche müssen. Dass dabei aber so viele Experten, die beitragen könnten, abgewürgt werden, kommt in dieser Sichtweise nicht mehr zum Tragen.
Inzwischen steht der PCR-Test ziemlich unter Feuer. Nächste Woche soll dazu in den USA eine Sammelklage eingereicht werden. Für Österreich steht ebenfalls eine solche Klage an. Wir dürfen gespannt sein, ob die notwendige Debatte dann doch noch in Gang kommt. Denn das ganze Pandemie-Konstrukt steht und fällt mit dem Blick auf eine valide Fallzahl.
Viele Grüße
Martin