Technologie entfaltet in komplexen sozialen Systemen immer auch unerwartete Seiteneffekte. Als IBM in den 1980er Jahren ein internes E‑Mail System einführte, wurde aufgrund der damals noch sehr hohen Kosten für Rechenleistung natürlich sehr genau analysiert, wie viel die Menschen bisher mit Memos und Telefonaten kommunizierten. Unter der Annahme, dass sich diese Kommunikation dann in das E‑Mail System verlagern würde, dimensionierte das Team den Großrechner großzügig. Trotzdem war das System schon in den ersten Wochen massiv überlastet. (Cal Newport, When Technology Goes Awry. In: Communications of the ACM, May 2020, Vol. 63 No.5).
Weil es so viel einfacher war über E‑Mail zu kommunizieren, nutzten die Mitarbeiter diese Technologie offensichtlich viel mehr als für ihre eigentliche Arbeit zu erwarten gewesen wäre. Das wäre nachvollziehbar, wenn diese zusätzliche Kommunikation für die eigentliche Arbeit notwendig oder wenigstens förderlich gewesen wäre. Leider war das nicht der Fall. Cal Newport zitiert in seinem Artikel Adrian Stone, der als Ingenieur damals in dem E‑Mail Team arbeitete: „Auf diese Weise wurde in nur einer Woche oder so der potenzielle Produktivitätsgewinn durch E‑Mail erzielt und wieder zunichte gemacht.“
Most knowledge workers believe that email is a passive tool they choose to use to make their real work easier. But […] this technology is not passive; it instead actively changes what we mean by „real work.“
Cal Newport. A Modest Proposal: Eliminate Email. In: Harvard Business Review, 18. Februar 2016.
Das war der Anfang eines großen Missverständnisses, dem wir bis heute immense Produktivitätsverluste verdanken. Die meisten Wissensarbeiter betrachten E‑Mail primär als ein Werkzeug, das sie bei ihrer eigentlichen Arbeit unterstützt. Tatsächlich hat E‑Mail aber das, was wir unter eigentlicher Arbeit verstehen deutlich verändert. Wo man früher Abläufe genauer planen musste, reicht es heute einfach schnell eine E‑Mail zu verschicken, um das Problem schnell vom Tisch und in die nächste Inbox zu bekommen. Der unbeabsichtigte Nebeneffekt dieser Technologie ist daher ein unstrukturierter Arbeitsablauf. In großen Teilen besteht der Alltag von Wissensarbeitern nun darin, eine immer größere Flut von Nachrichten zu verschicken, abzurufen und zu beantworten, damit die Arbeit irgendwie fortschreitet.
Was ursprünglich der Unterstützung der Arbeit dienen sollte, wurde damit unbeabsichtigt zum Kern der Arbeit. In dieser Hinsicht sind auch neuere Technologien wie Gruppenchats in Slack und Co. mit Vorsicht zu genießen, weil sie den Strukturverlust in der Arbeitsorganisation durch noch einfachere und unmittelbarere Kommunikation weiter befeuern.
Meetings are by definition a concession to deficient organization. For one either meets or one works.
Peter F. Drucker. The Effective Excecutive, S. 44
Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Plage großer Organisationen, den zum Bersten mit Besprechungen vollgestopften Kalendern. Natürlich sind Besprechungen an sich keine neue Technologie, aber durch Kalendersoftware wie Outlook und geteilte Kalender wurde es viel einfacher, jemandem eine Besprechung einzustellen. Was früher viel Planung und Telefonate von Assistenten und Assistentinnen erforderte, geht nun auf Knopfdruck und wird damit entsprechend exzessiv genutzt. Jetzt mit dem durch die Pandemie vermehrten Aufkommen von verteilter Arbeit im Homeoffice eher noch mehr, weil durch Videokonferenzen nicht mal mehr physische Präsenz für die Besprechung notwendig ist.
Weder E‑Mail noch Besprechungen sind aber per se das Problem, vielmehr ist es ihr zersetzender Effekt auf strukturierte Abläufe. Ihre Einfachheit verleitet zu einer Zusammenarbeit, die im Wesentlichen durch Zuruf funktioniert. Es hilft daher nicht wirklich bei diesen Symptomen anzusetzen, sondern bei der Frage, wie die Zusammenarbeit besser gestaltet werden kann als durch Statusmeetings und E‑Mail Ping-Pong.
Eine Antwort darauf liefern beispielsweise Methoden aus der agilen Softwareentwicklung, allen voran Scrum. Die Arbeit ist klar strukturiert in Backlog-Items, die entweder physisch auf Karten beschrieben sind oder virtuell in Tools wie JIRA verwaltet werden. An welchen davon konkret gearbeitet werden soll, wird alle zwei bis vier Wochen zu Beginn eines Sprints im Sprint-Planning entschieden. Was dann im Detail zu tun ist, beschreibt das Team dann in einzelnen Tasks je Backlog-Item und hält alles auf einem Kanban-Board (physisch oder digital) fest. Jeden Tag im sogenannten Daily trifft sich das Team vor diesem Board und spricht kurz darüber, welche Tasks abgeschlossen wurden und wer was als nächstes macht und wer wobei Hilfe benötigt.
Ein Teil des Erfolgs von Scrum geht meiner Meinung nach allein darauf zurück, dass Arbeitsablauf und Arbeitsinhalte recht rigide strukturiert werden und viel weniger darauf, wie das konkret passiert. Wenn man sich darauf einlässt, eliminiert diese Struktur viele E‑Mails und viele Besprechungen. Und damit bleibt mehr Zeit für das, was Software-Entwickler wie alle anderen Wissensarbeiter am meisten brauchen, um gute Arbeit zu leisten: Fokus und Konzentration.
2 Kommentare
Hallo Marcus,
ich aknn Dir nicht folgen und sehe eMails nach wie vor positiv. Entscheidend ist un mal der Umgang damit. Email 2 – 3 mal am Tage laesen und innerhalb von 3 Tagen antworten. So funktioniert alles bestens. Schade, dass das usenet fast nicht mehr existiert. die auf eMails basierten news waren einfach super. Neumodische Foren sind ein Zeitkiller, ohne wirklichen Nutzen. Und auch die Werkzeuge sind entscheidend. Mit Outlook ist einfach keine sinnvolle eMail Kommunikation möglich. Kann nicht ordentlich zitieren und noch nicht mal die Signatur abschneiden funktioniert. Aber viele Manager halten eMAils für den Ersatz von geschäftsbriefen oder Werbesendungen.
Ich kann E‑Mail durchaus auch Positives abgewinnen. Tendenziell führt diese Technologie aber dazu – und das ist die These des Artikels basierend auf den Überlegungen von Cal Newport, dass sich keiner mehr Gedanken macht, wie die eigentliche Arbeit sinnvollerweise zu strukturieren wäre. Stattdessen schreibt man sich immer mehr Nachrichten, um die Arbeit irgendwie voranzubringen und irgendwann besteht dann die Arbeit gefühlt nur noch aus dem Schreiben von E‑Mails. Zu Outlook stimme ich dir voll und ganz zu … zu Studienzeiten hatten ich mir Emacs als E‑Mail Client konfiguriert und da war die Welt noch in Ordnung …