Die Evolution hat uns Menschen mit der erstaunlichen Fähigkeit zur geistigen Vorwegnahme zukünftiger Zustände, vulgo Planung, ausgestattet. Für die Menschheit im Ganzen ist diese Fähigkeit in Kombination mit unseren sprachlichen Fähigkeiten, durch die wir gemeinsam etwas planen und ausführen können, ein großer Segen, für den einzelnen Menschen aber auch ein Fluch. Mit der Fähigkeit zum Denken in Szenarien entstehen auch Ansprüche, Wünsche und Konflikte. Es ist nie genug, es gibt immer noch mehr zu versuchen und zu erreichen. Sehr treffend, aber auch ein wenig resigniert, fasste der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal diese Tragik der menschlichen Existenz zusammen: „Alles Unglück der Menschen kommt daher, dass sie sich nicht ruhig in ihrem Gemach zu halten wissen“ (Pascal & Kleuker, 1777, S. 221).
Die Kürze des Lebens
Die Klage über die Kürze des Lebens vor dem Hintergrund unserer Möglichkeiten, Wünsche und Ansprüche ist daher wohl so alt wie die Menschheit selbst. Besonders betroffen von diesem Problem scheinen aber Denker und Philosophen. Seneca etwa widmet der „Kürze des Lebens“ ein ganzes Buch und stellt gleich zu Beginn klar: „Nur für eine kurze Spanne Zeit werden wir geboren, und diese uns zugestandene Frist läuft so rasch, ja rasend schnell ab, dass das Leben die Menschen, mit nur wenigen Ausnahmen, verlässt, während sie sich gerade im Leben einrichten“ (Seneca, 2017, S. 9).
Seit der Antike hat sich die Schere zwischen denkbaren und potenziell realisierbaren Möglichkeiten und der dafür zur Verfügung stehenden Zeit für immer mehr Menschen immer weiter geöffnet. Der Mensch der Moderne und Postmoderne sieht sich schier unendlichen Möglichkeiten gegenüber und zusätzlich mit der einst göttlichen Aufgabe betraut, seiner nackten Existenz einen Sinn zu verleihen. Die uns dafür zur Verfügung stehenden rund 4.000 Wochen muten auf den ersten Blick wie ein schlechter Scherz eines grausamen Schöpfers an: „Die durchschnittliche menschliche Lebensspanne ist absurd, erschreckend und beleidigend kurz“ (Oliver Burkeman, 2021, S. 3)
Die durchschnittliche menschliche Lebensspanne ist absurd, erschreckend und beleidigend kurz.
Oliver Burkeman
Nun sind die uns zugestandenen 4.000 Wochen aber auch nicht nichts, sondern per se schon ein Wunder und sie können klug eingesetzt eine ganze Menge sein. Man muss sich nicht wie Henry David Thoreau in die Wälder zurückziehen, um bewusst zu leben, aber sein Anspruch und Auftrag darf uns durchaus leiten: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“ (Thoreau, 2015, S. 98)
Eine kluge Wahl treffen
Wir können also uns theoretisch viel vorstellen und uns vieles erhoffen, in die Praxis umsetzen können wir aber nur wenig davon. Egal wie gut wir uns organisieren und wie perfekt unsere Systeme zum Zeitmanagement funktionieren, egal wie früh wir aufstehen und welche Morgenroutine wir einsetzen, wir werden immer nur einen Bruchteil der Möglichkeiten umsetzen können. Durch diese natürliche Beschränkung unserer Kapazität werden unsere Entscheidungen aber erst bedeutsam. Hätten wir unendlich Zeit zur Verfügung, wäre es letztlich nicht so wichtig, wofür wir uns entscheiden. Erst wenn das eine Ja gleichzeitig und unausweichlich eine Vielzahl an Neins bedeutet, erlangt die gewählte Möglichkeit Gewicht. „Die Quantität unserer Neins bestimmt die Qualität unserer Jas“ (orig.: „The quality of our yeses is dictated by the quantity of our noes“) formulierte Greg McKeown das treffend in seinem Podcast.
Die Quantität unserer Neins bestimmt die Qualität unserer Jas.
Greg McKeown
Der Anspruch von Zeitmanagement und Produktivität kann es also nicht sein, alles erledigen zu wollen, was darauf hinausliefe, wahllos möglichst viele Aufgaben abzuarbeiten. Es muss vielmehr darum gehen, sich bewusst zu entscheiden. Da eine Entscheidung für etwas uns auch immer mit den dadurch entgangenen Möglichkeiten und letztlich der eigenen Endlichkeit konfrontiert, treffen wir sie erst, wenn sie unvermeidlich geworden ist. Wir stopfen unsere Tage so lange voll bis es schmerzt und trauen uns erst in dieser Situation der Überlast, Aufgaben und Möglichkeiten abzulehnen. Deshalb sieht Cal Newport in seinem Artikel im New Yorker vom August 2021 die meisten Wissensarbeiter in einem Grenzbereich der Überlastung: „ein Ort, an dem sie, sagen wir, um eine Zahl zu nennen, zwanzig Prozent mehr arbeiten, als sie eigentlich Zeit haben. Diese zusätzlichen zwanzig Prozent bieten gerade genug Überlastung, um Dauerstress zu erzeugen – es gibt immer etwas, das zu spät kommt, immer eine Nachricht, die nicht bis zum nächsten Morgen warten kann, immer ein nagendes Gefühl der Verantwortungslosigkeit in jedem Moment der Auszeit. Dennoch bleibt die Arbeit unter einem unerträglichen Schmerzpegel, der eine Veränderung erzwingen würde“ (Newport, 2021).
Wir können uns also entscheiden, trauen uns das Nein aber guten Gewissens erst, wenn wir schon überlastet sind. Vor dem Hintergrund, dass wir aber ohnehin die weitaus meisten Dinge in unserem Leben nicht erledigen werden, machen zwanzig Prozent mehr oder weniger auf lange Sicht keinen wesentlichen Unterschied; insbesondere dann nicht, wenn sie derart wahllos eingesetzt werden, wie es tagtäglich in unseren Kalendern und Mailboxen passiert. Was einen Unterschied macht, ist die kluge Wahl. Um diese treffen zu können, braucht es ein gewisses Maß an Freiraum und Puffer. Wenn wir erst im Grenzbereich dieser gerade ausreichend schmerzhaften Überlastung mit der Selektion beginnen, ist auch diese Wahl beliebig, weil wir nicht von Prioritäten geleitet werden, sondern schlicht aufgrund von Überforderung ablehnen.
Unsere optimale Auslastung liegt also nicht bei zwanzig Prozent zu viel, auch wenn sich das so schön „busy“ anfühlt, sondern eher bei 80 % oder 85 %. Gunter Dueck leitet genau diese Zahl mathematisch aus der Warteschlangentheorie her und kommt zusammengefasst zu dieser Empfehlung: „Alles über 85 Prozent Auslastung führt zu Chaos bis hin zu Katastrophen. Denn eine solch hohe Auslastung erzeugt durch Ärger und Prioritätenänderungen wegen wartender Notfälle neue Arbeit, sodass die Auslastung über 100 Prozent steigt und das System zusammenbrechen lässt“ (Dueck, 2015, S. 61).
Prioritäten setzen
Zeitmanagement heißt also nicht möglichst vieles in die zur Verfügung stehende Zeit zu quetschen (Effizienz), sondern letztlich zu den richtigen Dingen Ja zu sagen und damit dann zu ganz vielen anderen Nein (Effektivität). Leider erscheint uns durch unsere Fähigkeit zur geistigen Vorwegnahme zukünftiger Zustände vieles attraktiv und erstrebenswert und so geht jede Wahl mit hohen Opportunitätskosten einher. Aber gerade, weil unsere Zeit so frustrierend begrenzt ist, dürfen wir nicht paralysiert, wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen, sondern müssen eine gute Wahl treffen.
Um diese Wahl im täglichen Chaos treffen zu können, sollten wir den praktischen Ratschlag beherzigen, den Warren Buffett einst seinem Piloten gegeben haben soll auf die Frage, wie man Prioritäten richtig setzt. Er solle eine Liste von 25 Dingen erstellen, die er im Leben erreichen wolle und diese nach Wichtigkeit absteigend ordnen. Die obersten fünf würden dann die Prioritäten bilden, nach denen er sein Leben ausrichten solle. Die anderen zwanzig aber dürfe er nicht als nachrangige Prioritäten behandeln, die er angehen könnte, wenn sich die Möglichkeit ergäbe, sondern müsse sie um jeden Preis vermeiden. Diese Ambitionen seien nämlich einerseits nicht wichtig genug, um den Kern seines Lebens zu bilden, aber andererseits verführerisch genug, um ihn von den wirklich essenziellen Dingen abzulenken (Burkeman, 2021, S. 77f.).
Literatur
Burkeman, O. (2021). Four Thousand Weeks: Time and How to Use It. Random House.
Dueck, G. (2015). Schwarmdumm: So blöd sind wir nur gemeinsam. Campus-Verl.
Newport, C. (2021, August 30). Why Do We Work Too Much? The New Yorker. https://www.newyorker.com/culture/office-space/why-do-we-work-too-much
Pascal, B., & Kleuker, J. F. (1777). Gedanken. bei Johann Heinrich Cramer.
Seneca, L. A. (2017). Glück und Schicksal: Philosophische Betrachtungen (M. Giebel, Hrsg.; Jubiläumsausgabe). Reclam.
Thoreau, H. D. (2015). Walden oder Leben in den Wäldern (E. Emmerich & W. E. Richartz, Übers.; Neue Aufl.). Diogenes-Verl.
Foto von Nathan Dumlao auf Unsplash
2 Kommentare
Zeit ist ein menschliches Konstrukt. Wenn man sich der Ewigkeit der Seele bewusst ist, wird Zeit obsolet.
Es ist die Eigenverantwortung der sich die meisten Scheuen. Sich seine Lebenszeit so einzuteilen dass man für sich etwas sinnvolles macht. Um Entscheidungen treffen zu können damit man priorisiert braucht es das Bewusstsein dass es keine negativen Konsequenzen hat wenn man etwas nicht macht. Ich habe noch nie gesehen dass jemand seinen Job verloren hat wenn er eine Deadline nicht eingehalten hat. Und wenn dem wirklich so wäre, weiß man dass dies nicht der richtige Ort für einen war. Den Druck etwas erledigen zu müssen, macht man sich selbst. Wir versuchen unangenehme Emotionen aus dem Weg zu gehen in dem man alles erledigt was von einem gefördert wird. Dabei sind gerade diese Emotionen notwendig um „nein“ sagen zu lernen und sich bewusst zu werden was man wirklich will. Erst durch dieses Gewahrsein, kann man sich der Zeit entziehen und seinen Fokus auf dass lenken was einem wirklich glücklich macht. Und zack verfliegt die Zeit im Flug weil man im Flow ist. Was wiederum heißt, man hat etwas gemacht, was einen glücklich macht :-)
Vom klugen Umgang mit unserer wertvollen und geschenkten Lebenszeit…
1. Dankbarkeit für unser geschenktes Leben ist ein gutes Fundament für ein erfülltes Leben hier auf Erden.
2. Neugier (..wobei ich das Teilwort „Gier“ nicht im nicht im negativen Wortsinn sehe) ist der zweite wichtige Faktor den wir auch in unserer DNA geschenkt bekommen haben.
Diese Neugier lässt uns das laufen, sprechen und das Lernen allgemein bis ins hohe Alter „erfahren“.
3. Erfahrung ist quasi die Rückkopplung oder das Feedback das wir durch unser Tun von unserer Umwelt zurück bekommen.
Fazit: Damit eine Lebenszeit „Wervoll“ oder besser „Sinnvoll“ wird, bedarf es meines Erachtens, keiner von uns selbst gesetzten großen Ziele …oder noch schlechter von Anderen uns aufgezwungenen Erwartungen, sondern ein Verständnis darüber was wir Imstande sind mit unseren Talenten zu schaffen.
Was unsere Talente sind lernen wir schnell kennen, wenn wir unendlich oft die oben genannten 3 Punkte „üben“. Von Kind auf an.
Dann ist es an uns unserem Leben „Wert“ und „Sinn“ zu verleihen. Auf welchem Level spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Groß denken (Wo führt das Hin) und klein anfangen (Wo stehe ich heute mit meinen Fähigkeiten) ist dabei kein Hindernis.
Viele und auch große Veränderungen entstehen so „Peu-a-peu“ und setzen ihre Prioritäten durch kurze Feedback-Loop’s selbst.